Drei Irre Unterm Flachdach
damit ich ihn zur Gedenkstätte begleiten konnte.
Angesteckt von seiner feierlichen Stimmung, stand ich lange vor dem Kleiderschrank und übe r legte, was ich anziehen sollte. Es mußte das Schönste sein, was ich hatte. Wenn wir mit der Schu l klasse ein ehemaliges Konzentrationslager besuchten, waren Pi o nierbluse und blaues Halstuch Pflicht. Doch Großvater hatte an seinem Ehrentag was anderes verdient als den Anblick einer Un i form.
Neuerdings besaß ich eine knallrote Pumphose aus Aus t ralien. Mutter hatte sie von einem Gas t spiel mitgebracht. Die Hose war der Hammer, topmodisch und einzigartig. Garantiert übertraf sie alles, was es in Wes t deutschland an Hosen gab! Das Beste daran war das linke Bein. Es war mit schwarzer Schrift b e druckt. Wenn man den Kopf zur Seite neigte, las man von der Hüfte abwärts bis zum Kn ö chel das Wort BODYGUARD. Sie war für den Anlaß genau richtig. Ich war stolz auf Großvater und fühlte mich als seine Beschützerin. Wenn es fettgedruckt auf meinem Hosenbein stand, daß ich sein Leibwächter war, um so besser.
Großvater gefiel die Hose auch. »Was für eine schöne rote Hose!« sagte er und rieb den Stoff b e hutsam zwischen den Fingern. Das Rot, vor allem das Rot fand er gut. Für die Schrift interessie r te er sich nicht, er verstand kein Englisch.
Schon am Vorabend bürstete er sorgfältig se i nen Staubmantel aus und legte die schwarze Ba s kenmütze bereit. Er trug immer den graugrünen Mantel und die Baskenmütze, wenn wir nach Sac h senhausen fuhren. Die Mütze thronte frech auf seinem weißen, well i gen, fast schulterlangen Haar.
Bevor wir dann lo s gingen, gab er mir zwei Eukalyptusbonbons. Wegzehrung, sagte Großvater und schob sich selber einen in den Mund. Eukalyptus oder Schweizer Kräuterzucker hatte er immer dabei. Den Schweizer Kräuterzucker ließ er sich von seiner Schwester Helene aus Göttingen schicken. Kleine braune Wü r fel, leuchtend gelb eingewickelt. Sie sahen appetitlicher aus als die Eukalyptusbonbons in ihrem trostlosen, mat t grünen Papier, das man mitlutschen mußte, weil man es anders nicht abbekam. Das Zeug klebte wie Pech an den dicken s ü ßen DDR-Bonbons.
Großtante Helene war völlig anders als mein kommunistischer Großv a ter. Sie glaubte fest an den lieben Gott. Großmutter nannte sie eine arme Ki r chenmaus. Trotzdem schickte uns die Tante auch die Nordseekrabben. Nordseekrabben waren erheblich teurer als Kaffee oder Strumpfhosen, aber ihrem Bruder zuliebe zwackte sie, sooft es ging, ein paar Mark für Krabben ab.
Die Tüte mit dem Schweizer Kräuterzucker war tabu. Großvater bewachte sie wie einen Schatz. Wir durften sie nicht anfassen, geschwe i ge denn, einen Würfel rausfischen. Nicht, daß er uns nichts abgeben wollte, im Gegenteil. Aber die Ve r teilung war ein feierlicher Akt. Der Auserwählte mußte das Bonbon sofort lutschen, auch wenn er gerade gar keinen Schweizer Krä u terzucker wollte. Mir a l lerdings, wenn ich danach fragte, steckte er mit ko n spirativer Geste immer einen der braunen Würfel zu.
Mit dem Ost-Eukalyptus war es anders. Überall im Haus lagen die grünen Dinger rum, jeder durfte davon nehmen. Großvater, der sie unentwegt lutschte, roch wie eine aufgerissene Bonbontüte. Nach Schweizer Kräuterzucker roch er seltener, weil er sich selbst von der strengen Zuteilung nicht au s nahm.
Manchmal hatte ich vier oder fünf braune Würfel gesammelt und verteilte sie an meine Freunde. »Die sind von meinem Opa, und die hat er aus dem Westen!« prahlte ich.
Fuhren wir mit den andern ehemaligen Häftlingen zur G e denkstätte, gab es grundsätzlich Eukalyptusbonbons, niemals Schweizer Kräuterzucker. Seine K a meraden aus Sachsenhausen, das wußte Großvater, hatten keine Westverwandtschaft und demz u folge keinen Schweizer Kräuterzucker. Er hielt es für richtig, nicht damit anzugeben. In Sachsenhausen lutschte er, was alle lutschen kon n ten, Ost-Eukalyptus.
Großmutter durfte nicht mit ins KZ. Sie hatte die Ang e wohnheit, bei den g e ringsten Anlässen vor Rührung loszuheulen. Was würde das dort erst werden, wenn sie ihren Mann und all die a n dern Ehemaligen andächtig schweigend mit gesenkten Köpfen vor dem Denkmal stehen sah? Die Vorstellung, mit einer he u lenden, laut ins Taschentuch schnaubenden Ehefrau in Sachsenhausen aufz u kreuzen, war Großvater ein Graus. Ich fand, es wäre peinlich gewesen, und Großmutter hat zum Glück nie widersprochen. Wahrscheinlich wollte sie selber
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