Drei Irre Unterm Flachdach
würde nie mehr wiede r kommen, nie mehr. Nach dem Mittagsschlaf – ich hatte im Bett vor Aufregung ein blaues Steinherz verschluckt – lief ich durch das Gartentor hi n aus auf den Gehweg. Ich suchte Großmutter.
Orientierungslos tappte ich durch die Pankower Straßen, bis ich nicht mehr konnte und vor einem Hauseingang auf die St u fen plumpste. Ein Volkspolizist hatte Mitleid mit mir. Er fragte nach me i nem Namen, aber ich schrie nur: »Zu meiner Oma will ich, Oma, Oma, die arbeitet beim DFD!!!« Der Polizist sagte: »Ach du Scheiße!«, nahm mich an die Hand und brachte mich zum Demokratischen Frauenbund Deutsc h lands.
Dort ging es drunter und drüber. Großmutter setzte mich auf einen Stuhl in der Ecke. Von ihrem Parfümgeruch, der sich mit dem von den andern Frauen mischte, wurde mir schlecht. Die DFD-Tanten umzingelten einen Mann, der ve r führerisch lächelte und eine alte Nähmasch i ne unter dem Arm hatte. Er sagte lauter nette Sachen, besonders zu Großmutter. Sie war trotz ihrer vorstehenden Zähne die schön s te von allen und begleitete den Mann mit der Nähmaschine zur Tür. Zum A b schied küßte sie ihn auf die Wange und hielt sich noch eine Weile an ihm fest: »Besuchen Sie uns mal wieder, mein Süßer!« Sie sagte zu allen Männern »mein Süßer«, nur zu Großvater nicht. Als wir in der S-Bahn saßen, fragte ich nach dem Mann mit der Nähmaschine. »Das war Manne Krug, ein berühmter Schauspieler. Sammelt alte Nähmasch i nen. Hat dem DFD eine abgekauft. Doll, was?« Sie nannte ihn zärtlich Manne, ihre Stimme, die g e wöhnlich schroff klang, war butterweich, und selbst die Zähne wirkten kleiner, wenn sie von ihm sprach. Noch jahrelang schwärmte Großmutter von Manfred Krugs Besuch beim Dem o kratischen Frauenbund Deutschlands: »Und zum Abschied hab ick den Süßen j e küßt!« Großvater wußte nichts davon.
Wilma Voss, geborene Hermelin, wurde am 15. Juli 1928 geboren. Das heißt, vielleicht wurde sie auch am 15. Juli 1927 g e boren. 2007 wäre sie also achtzig Jahre alt geworden oder neunundsie b zig. Hätte sie noch gelebt, hätte sie ihren achtzigsten Geburtstag 2007 und zum zweiten Mal 2008 feiern können, sie fand das orig i nell.
Die Geburtsurkunde war im Krieg abhanden gekommen, Großmutters G e burtsjahr später nicht mehr nachvollziehbar. Sie selbst konnte sich nicht eri n nern, auch der Bruder und die drei Schwestern wußten es nicht. In ihre Ersat z geburtsurkunde kam der Eintrag: Geboren am 15. Juli 1927.
Wilma Hermelin hatte das frühere Datum angegeben, damit sie zweimal fe i ern konnte. »Weeßte, einmal offiziell und einmal ino f fiziell. Is doch jut!« Wann immer es eine Chance gab, dem Alltag s trott zu entfliehen, nahm Großmutter sie wahr und machte einen übermütigen Kopfsprung ins süße Leben. Ihren Sechzigsten feierte sie noch zweimal, den Siebzigsten kein einziges Mal, sie starb mit neunundsechzig – oder mit achtundsechzig.
Großmutter war praktisch veranlagt und stand, wie man so sagt, mit beiden Beinen im Leben. Schwebte ein Problem unhei l voll im Raum, holte sie es zu sich runter und machte es klein: »A l let Quatsch!« So kam sie gut über die Runden. Sie sagte ihre Meinung geradehe r aus und hatte nicht nur Freunde. Was andere über sie dachten, war ihr egal: »Urbin, gute Schuhcr e me«, sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Laß doch die Meiern reden!« Sie konnte ein und diese l be Sache heute so sehen und mo r gen andersrum. Mit diesem ständigen Wechsel der Sicht auf die Dinge hielt Großmutter sich wach. Sie betrieb eine Art Gehir n zellensport.
Unsere Ranch
Den Grundriß unseres Amibungalows, ein schlichtes Viereck, hatte selbstverständlich Großvater entworfen. Die A u ßenwände waren mit eierschalfarbenem Kunststoff verkleidet, Hartplaste mit geriffelter Oberfläche. Fenster- und Türra h men hatte Großvater mit silberner reißfester Alum i niumfolie aus dem Westen beklebt. Bevor er mit dem Bau des Hauses anfangen konnte, mußte Gustav die Ruine, die bis dahin auf unserm Grundstück g e standen hatte, Stein für Stein abtragen. Die alten Ziegel verwendete er für die Grun d mauern des neuen Hauses, Ziegelste i ne waren knapp im Osten.
Im Februar 1972, nach sechs Jahren Bauzeit, war unsere Ranch fertig. Die Ri f felplasteverkleidung sah nicht gerade fetzig aus, erwies sich aber als äußerst wetterfest. Erst nach dem Mauerfall wurde sie durch groben beigebraunen Rauhputz ersetzt. Nicht so wetterfest wie die
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