Drei Irre Unterm Flachdach
nicht stundenlang flennen.
Wir fuhren also immer zu zweit, Großvater und ich. Schon auf der Hinfahrt, im Bus mit den Veteranen, machte ich ein bedeutendes Gesicht. Als einziges Kind bei der G e denkfeier durfte ich am Mahnmal für die Opfer des Faschismus eine rote Nelke niederl e gen. Die Schritte aus der Menge heraus, in die Stille hinein, mit der Blume in der Hand – es gab nichts Erhebe n deres. Alle sahen nur zu mir, wie ich langsam und aufrecht zum Mahnmal ging. Damit es würdevoll aussah, hatte ich den Gang zu Hause vor dem Spiegel geübt. Die Hand, in der ich die Nelke hielt, war völlig verkrampft. Am Sockel des Denkmals hielt ich inne, legte die Blume ab, richtete mich wieder auf und schritt unter den betroff e nen Blicken der Veteranen zurück zu meinem Platz. Ich sah ihnen nacheina n der fest in die Augen und spürte es: Wir alle waren tief miteinander verbu n den.
Ich liebte die Besuche im KZ und freute mich jedes Mal auf meinen großen Auftritt.
Leider war kein Gedichtvortrag im Konzept der Gedenkfeier vorgesehen. Mit Bertolt Brechts »Bitten der Kinder« hatte ich schon zweimal den Rezitationswet t bewerb im »Haus der jungen Talente« gewonnen: »Die Häuser sollen nicht bre n nen, Bomber sollt man nicht kennen ...« Wahnsinn! Großvater wäre vor Stolz geplatzt hier im KZ. Er hätte mir zu Hause gleich einen neuen Ochse n schwanz gekocht.
In der Schule wurden öfter Kinder wegen besonders guter Leistungen ausgezeichnet und durften für vier Wochen in die Pi o nierrepublik »Wilhelm Pieck« am Werbellinsee. Eine Weile glaubte ich, man wäre nur wer, wenn man da auch mal war. Doch je älter ich wurde, desto weniger hatte ich übrig für diese Streber, die vom wahren Leben überhaupt nichts wußten. Meine Auftritte im KZ waren mir mehr wert als Spiel und Spaß an einem sch ö nen See.
Nachdem er unter den Nazis drei Jahre im Zuchthaus gesessen hatte, kam Großvater 1940 ins Konzentrationslager Sachse n hausen. Dort überlebte er fünf Jahre.
Am 21. April 1945 verließ er mit hundert Gefangenen in einer Marschk o lonne unter SS-Bewachung kurz nach Mittag das Lager. Der Marsch führte ins Ung e wisse. Den Schluß bildeten vier SS-Männer, schußbereite Maschinenpistolen im Anschlag. »Wer zurückbleibt, wird erscho s sen!«
Nach mehr als einer Woche Marsch, es gab kaum zu essen und zu trinken, lebten von den hundert Gefangenen noch sechzig. In der Nacht zum 1. Mai trieb man sie auf einem Acker zusammen. Als die Gefangenen sich am Lagerfeuer wärmten, wurden sie von den SS-Leuten umstellt. Nur wenige Meter vom Acker verlief eine Straße. Wer sich ihr näherte, dem drohte der Tod durch E r schießen. Mein Großvater hatte sein Gepäck unter einem Baum abgelegt. Vom Baum waren es ungefähr drei Meter bis zum Graben, der Gr a ben führte zur Straße. Zusammen mit einem ändern Häftling entschloß er sich zur Flucht. Sie rutschten Ze n timeter für Zentimeter vorwärts bis zum Graben. Um einen Meter voranzukommen, brauchten sie eine Stunde. Sie robbten auf allen vieren bis zur Straße und waren frei. Auf der Landstraße liefen sie Richtung Schwerin. Unterwegs begegnete ihnen ein Lastwagen. »Abschi e ßen muß man euch, euch Schweine aus dem KZ!« schrien die Frauen von der Ladefläche runter.
Aber, betonte Großvater, sie seien auch netten Menschen b e gegnet auf ihrem Weg nach Schwerin.
Die Geschichte seiner Flucht erzählte er immer wieder. Er erzählte sie Großmutter und mir, allen Verwandten, den Nac h barn und sogar unserm Westbesuch. Doch von der Zeit im KZ sprach er nie. Niemals hat er darüber auch nur ein einz i ges Wort verloren.
»Ein Unbekannter schreibt«
1998, fast zwanzig Jahre nach Großvaters Tod, fand ich in einem Regal meiner Mutter, zwischen Aktenordnern mit Lebensve r sicherung und Arbeitsvertrag, ein Manuskript im A4-Format. Dreihundertfünfundvierzig Schrei b maschinenseiten mit dem Titel: »Ein Unbekannter schreibt«. Eine halbe Ewigkeit hatten Großv a ters Erinnerungen unberührt in Mutters gut sortiertem Leben geklemmt! Es gi n gen doch seltsame Dinge vor in unserer Familie. Niemand hatte diese Aufzeichnungen je e r wähnt, geschweige denn darin gelesen. Ich blätterte und las und las und blä t terte und goß mir einen Schnaps ein. Die Kindheit, die Jugend, die Jahre im Zuchthaus und im KZ, die Zeit danach – Gustav hatte alles aufg e schrieben. So hatte er versucht, den ganzen Wahnsinn zu vera r beiten, über den er nie mit uns gesprochen hat.
Und Mutter
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