Drei Irre Unterm Flachdach
hatte das wertvolle Dokument einfach zu den A k ten gelegt. Was sollte man dazu sagen, sie war nun mal beim Ballett. Warum hatte sie nie darüber gesprochen, nichts davon gel e sen? Die Antwort war gleichermaßen abseitig wie nachvollziehbar. »Du, da muß ich sofort heulen. Und außerdem hab ich Angst vor dem, was da drinsteht.« Und Großmutter? Die war ja kein Angs t hase. Hatte die es gelesen? Ich konnte sie nicht mehr fragen, denn sie war 1996 gesto r ben. Allerdings lag der Verdacht nahe, daß sich Wilma Voss tatsächlich nie für die Aufzeichnungen ihres Mannes interessiert hatte. Aus pra k tischen Gründen hatte sie lieber nach vorn und nicht zurück gesehen, die Ane k doten aus ihrer Jugend, die sie immer wieder gern erzählte, ausgenommen.
1 . Mai 1955. Unglaubliche Vorkommnisse zwingen mich, meine Erlebnisse der letzten Jahre nieder zuschreiben. Es ist der letzte Versuch, die Ungerechti g keiten und Gemeinheiten anzuprangem, die mir widerfuhren. Kampflos räume ich nicht das Feld ...
Vielen Menschen habe ich schon meine Geschichte erzählt. Man hat mich b e dauert, doch niemand konnte mir helfen. Immer wieder hatte ich den Ei n druck, daß man mich für unheilbar geisteskrank hält...
Aus meiner Kindheit erinnere ich nicht nur bedrückende Bilder. Von den begl ü ckenden Eindrücken ist einer geblieben. Ich hatte lange Haare mit einer großen Schleife und trug Mädchenkleider. Mutter hatte schon zwei Söhne und wünschte sich ein Mädchen. Als auch das dritte Kind ein Junge war, steckte sie mich kurz entschlo s sen in Mädchenkleider.
Als ich zur Schule kam, fielen meine Locken. Statt der Mädche n kleider trug ich jetzt einen dunkelblauen Samtanzug mit Spitzenkragen. Meine Mutter hat die L o cken noch lange Zeit aufbewahrt. Nach über zwanzig Jahren habe ich sie fein g e bunden mit einer blaßrosa Schleife wiede r gesehen.
Auch davon hatte Großvater uns nie erzählt: daß er die ersten Jahre seines Lebens sozusagen als Transvestit verbracht hatte. Gustavs Mutter hat die Sache mit den Mä d chenkleidern bis zu dessen Einschulung konsequent durchgezogen, was dafür spricht, daß sie entweder extrem unkonventionell war oder nicht alle la s sen im Schrank hatte.
Nun ist es aber nicht so, daß ich nur Trauriges erlebt habe. Im Gegenteil Ich habe viel und gern gelacht. Ich habe getanzt und war lustig und guter Laune. Wu n derbar die verträumt romantische Zeit in der Jugendbewegung. Alle r dings zum größten Teil vertändelt. Aber ich bin ohne Reue darüber
Schön meine Zeit als Bühnenschüler und als Schauspieler. Wertvoll und auch voller Freude meine Mitgliedschaft in der Partei. Ich denke, ich würde tief unglüc k lich sein, wenn ich diese Zeit nicht erlebt hätte. Sie hat meinem Leben Sinn und Inhalt geg e ben.
Für seinen Entschluß, in die Kommunistische Partei ei n zutreten, brauchte Großvater nicht länger als einen Wi n terspaziergang. Er fackelte nicht lange, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen:
Es war eine schöne und lange Wanderung. Der Schnee knirschte unter unseren Füßen. Otto sagte mir unumwunden, daß ich zur Partei kommen solle. Dort sei mein Platz. Alle r dings müsse ich noch viel lernen, aber meine Grundeinstellung zum Leben sei die eines Ko m munisten. Das erste, was ich tat, war, daß ich die »Rote Fahne« bestellte. Dann las ich das Kommunistische Manifest. Wie einfach und klar war doch mit einem Male alles. Nach wenigen Tagen sahen mich meine Eltern e r staunt an, als ich Hammer und Sichel trug. Ich war der Kommunistischen Partei beigetreten.
Die Mädchenkleider schienen bei Großvater keinerlei Spuren hinterlassen zu haben. Ungefähr 1931, die Ausbildung in der Partei ging mit Riese n schritten voran , hatte er nach Liesbeth, Emmy und Lieschen bereits die vierte Freundin namens Lotte.
Ich wurde Mitglied einer Agitproptruppe. Hier lernte ich Lotte kennen. Sie war ein liebes und nettes und sehr kluges Mädel. Ich fand es großartig, mit einem Mädel den Bund für das Leben zu schließen, das genauso dachte und handelte wie ich. Lotte war me i ne zweite ganz große Liebe. Meine Schwester konnte es gar nicht verstehen, daß sich ein Mädel so intensiv mit Politik beschäftigen kann. Es gab erregte Auseinanderse t zungen.
Es gab immer Auseinandersetzungen. Mit allen Menschen, die ich traf. Ich hatte mir eine besondere Methode angeeignet. Fast immer ging ich von der drohenden Gefahr der Vorbereitung eines Krieges aus. Ich bin viel verlacht worden. Man hat mich
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