Drei Irre Unterm Flachdach
auf dem Sofa, als er um die Ecke gefegt kam. In der Hand hielt er den Tuschkasten. »Ve r flixt und zugenäht! Warum ist die Tusche feucht? Warum ist die Tusche feucht? Warum ist die Tusche feucht?« Er wiederholte unentwegt den einen Satz, mon o ton und kreischend, wie eine durchgedrehte Sprec h puppe. Dann schubste er mich vor sich her in sein Zimmer, schmiß den Kasten auf die Erde und zertra m pelte ihn vor meinen Augen in tausend Stücke. »Das hast du nun davon! Sieh ihn dir an, den sch ö nen Tuschkasten! Nun ist er kaputt, kaputt, kaputt ...!« Ich erlitt einen Schock.
Nach der Sache mit der Westtusche träumte ich jahrelang den gleichen Traum: Ein Tuschkasten zerfällt vor meinen Augen in Stücke. Die Stücke steigen wie schwarze Papie r drachen in den Himmel auf. Je weiter sie weg sind, desto größer werden sie, bis der ganze Himmel schwarz ist. Die kleinen Teilchen sind zu einer Masse verschmolzen, die auf mich runtersaust. Kurz bevor ich unter der Masse ersticke, wache ich auf und ringe nach Luft.
Wenn Großvater schrie, kniff ich die Augen zusammen und steckte mir die Finger in die Ohren. Doch das war ihm egal. Er brüllte einfach weiter. Wah r scheinlich brüllte er manchmal auch im Keller. Immer wenn er einen Tag da u n ten verbracht hatte, war oben für einige Zeit Ruhe.
Ich hatte Angst, er könnte meine Freunde vergraulen. Nichts wäre schlimmer gewesen, denn ich war Einzelkind. Also sagte ich zu den andern: »Ich habe einen furchtbar bösen Opa, der kann so laut schreien, daß einem schlecht wird! Willst du ihn mal sehen?«
Es funktionierte. Natürlich wollten sie. Als Feigling dastehen wollte keiner. Ich kriegte ha u fenweise Besuch. Alle, die Großvater mal brüllend erlebt hatten, meinten, er hätte den totalen Socke n schuß. Ich tat ihnen leid. »Du Arme, wie hältst du das bloß aus?« Die Frage hatte ich mir gar nicht gestellt, ich fand mein Leben mit ihm stinkno r mal. Er tickte eben nicht richtig, na und?
Andere hatten auch einen Schuß. Zum Beispiel die Mutter von Manja. Die Frau von Kammersänger Stummel hätte ich ums Verrecken nicht als Mutter haben wollen, denn sie war hy s terisch und hatte Glupschaugen.
Großvater jedenfalls bastelte tolle Sachen und spielte Kasperletheater, auch für alle meine Freunde. Es gab niema n den sonst, der das machte. Wenn er gerade nicht brüllte, dann spielte er für mich. Wenn er mich ungerecht behandelte, rannte ich ins Kinde r zimmer und trat minutenlang gegen meine Möbel. Was er konnte, konnte ich auch!
Außerdem hatte ich mir was Lustiges ausgedacht. Es war ganz leicht, ihn e i nen Moment lang außer Gefecht zu setzen. Für mein Spiel holte ich mir Ziegen-Oskar. Wir warteten, bis sich Großv a ter im Garten blicken ließ. »Schrei, so laut du kannst! Und dann guck, was mein Opa macht«, befahl ich ihm. »Und wenn ich sage ›Aufhören!‹, mußt du sofort still sein, sonst fällt er nämlich um!« Ziegen-Oskar gefiel das Spiel. Es machte ihm mehr Spaß als die Zu n genbrecher, mit denen ich ihn dauernd traktierte. Er fing sofort an zu schreien.
Großvater schwankte. Er torkelte wie ein Besoffener auf den nächsten Baum zu und hielt sich daran fest. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, den Kopf hatte er mit einem Ruck in den Nacken geworfen. Während er die freie Hand an den Hi n terkopf preßte, gaffte er in den Himmel. Er sagte kein Wort, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sobald er in die Knie ging, kommandierte ich Zi e gen-Oskar erneut. »Schnauze halten!« fuhr ich ihn an, aber Oskar parierte nicht. Er schrie einfach weiter. Ich drückte ihm meine Hand auf den Mund, worauf er mich an den Haaren zog und mir in die Handfläche spuckte. Die Spucke wischte ich an seiner dicken Backe ab. Dann kratzte und biß ich ihn, bis er endlich Ruhe gab. Die Spielregel war, daß ich gewinnen mußte. Großvater durfte auf ke i nen Fall umkippen.
War das Geschrei vorbei, rappelte er sich auf und ve r schwand, stumm und ohne ein erkennbares Zeichen von Schwäche, im Haus. Na bitte, ging doch. Er spielte ganz schön Th e ater! Ziegen-Oskar bekam von meiner eisernen Reserve als Belohnung einen Schwe i zer Kräuterzucker.
Von Zeit zu Zeit wiederholte ich mein Spiel. Danach ging es mir deutlich be s ser. Ich hatte nicht verdient, daß er mich grundlos anschrie, und so bewies ich mir, daß ich mich gegen ihn wehren konnte.
Ich führte ihn vor wie ein Zirkuspferd, ohne zu wissen, was ich ihm antat. Achtundzwanzig Jahre später las ich in seinen
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