Drei Irre Unterm Flachdach
Aufzeichnungen, wie es Gustav ergangen sein muß, wenn Zi e gen-Oskar schrie:
Dem ersten Schlag folgte nicht wie erwartet ein Schrei Es blieb still. Es war u n heimlich still. Dann zog ein dünner Ton an den Nerven. Es war wie das langgezog e ne, übermütige Quietschen eines Kindes. Ich kann heute noch nicht vertragen, wenn Kinder aus Übermut kreischen oder quietschen.
Drachensteigen
Ich hatte einen schönen Drachen. Er war aus we i ßem Leinentuch, das auf ein Holzkreuz gespannt war. Auf das Tuch war mit Ölfarbe ein lachendes Gesicht gemalt. Großvater hatte den Drachen für mich gebaut, jetzt lag er auf meinem Geburtstag s tisch. So einen herrlichen Drachen hatte ich noch nie gesehen. Wir liefen gleich los zu den Rieselfeldern hinter den Schweineställen, um ihn ste i gen zu lassen. Der Drachen war schwer, aber ich schleppte ihn durch die ganze Mü l lerstraße und die ganze Grabenstraße, vorbei an den Karpfenteichen bis zu den Feldern. Ich trug ihn auf den Schultern, so wie Möbelpacker einen Schrank, und das Hol z kreuz drückte mir rote Striemen in die Haut.
Auf dem Feld waren viele Leute. Sie ließen alle ihre Drachen steigen. Der Wind war heute ideal dafür. Gleich würde auch mein Drachen fliegen, hoch oben, über allen andern.
Großvater, dem seine Baskenmütze immer wieder vom Kopf flog, wicke l te die Paketschnur, die am Drachen hing, von einem kleinen Holzstück ab. »Das mußt du gut festhalten!« sagte er und lief mit dem Drachen auf das Feld hinaus. Als eine günstige Win d bö kam, warf er ihn in die Luft. Der Drachen machte eine hektische Drehung, zeigte uns sein lachendes Gesicht und fiel runter wie ein Stein. Wir machten einen zweiten Versuch. Es hatte gar nichts zu bedeuten, daß er nicht gleich oben blieb. Auch andere Drachen schafften das nicht auf Anhieb. Nur plumpsten die nicht runter wie Steine, sondern trudelten sacht hinab auf die Erde. Unser Drachen war eben besonders groß. Er mußte fachgerecht hochg e worfen werden.
Großvater gab mir immer neue Instruktionen: »Stell dich breitbeinig, Jenni. Dann hast du besseren Halt! Den Oberkörper gerade, nicht nachgeben!« Ich stand steif wie ein Stock auf dem Acker, so breitbeinig, daß es schon fast Spagat war, und umkla m merte das Holzstück mit beiden Händen.
Als die andern Leute zu uns rübersahen und lachten, verlor ich die Lust. Sie machten blöde Witze. Doch Großvater dachte nicht daran, au f zugeben, obwohl er schon völlig außer Puste war. Immer wieder rannte er mit dem Drachen los. »Hoch, hoch, hoch!« rief er. »Das Ding muß hoch!«
»Herr Voss, der Drachen kann nicht fliegen. Er ist falsch konstruiert und viel zu schwer.« Herr W u lich mit der Glatze und dem Vollbart war von Furche zu Furche über den Acker gehüpft. Ich mochte ihn nicht, weil er immer freundlich tat, mir aber nach e i nem Klingelstreich mal eine runtergehauen hatte. Das mit unserm Drachen hatte er auch wieder so scheißfreundlich gesagt. Herr Wulich war eine falsche Ratte! Zum Glück wollte Großvater keine guten Ratschläge von ihm. »Dieser Drachen ist professionell g e baut, mein Herr! Ich denke, es ist besser, Sie kümmern sich um Ihren eigenen Dreck!« Von so viel Ehrlichkeit konnte sich Herr Wulich eine Scheibe a b schneiden.
Tat er aber nicht. Er sagte beleidigt: »Bitte, bitte, wenn Sie meinen«, zuckte mit den Schultern und verschwand.
Mir reichte es. Ich wollte nach Hause. Unser Drachen flog s o wieso nicht. Gott sei Dank hatte auch Großvater plötzlich genug. Wir wickelten die Paketschnur wieder um das Holzstück und trotteten zurück. Diesmal trug Großvater den Dr a chen, denn die Striemen auf meinem Rücken waren immer noch zu sehen. Den ganzen Weg über motzte er: »Falsch konstruiert, falsch konstruiert. Eine Unve r schämtheit ist das!«
Zu Hause angekommen, verschwand er mit dem Drachen im Keller und ließ sich den Rest des Tages nicht mehr blicken. Gegen Abend kam er ohne Drachen rauf. Er sprach nicht mehr davon, und ich traute mich nicht nachz u fragen. Auch an den nächsten lägen war bestes Drachenwetter, doch wir gingen nicht mehr zusammen aufs Feld. Wir gingen überhaupt nie wieder Drachen steigen la s sen. Ich grübelte lange nach, was Großvater im Keller mit meinem Geburtstagsg e schenk gemacht hatte.
Jahre später fand ich den Drachen wieder. Er klemmte eingestaubt hinter e i ner Obststiege. Ich machte ihn sauber und nahm ihn mit in mein Zimmer. Natü r lich hätte er nicht fliegen können. Fa r be,
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