Drei Irre Unterm Flachdach
stehen und nach draußen glotzen, obwohl sich da absolut nichts regte.
Für die rote Fahne hatte er oben auf dem Flachdach eine Hängevorrichtung installiert. Das Ausrollen war jedes Jahr eine gewaltige Aktion, bei der Großmu t ter unentwegt beschimpft wurde. Gro ß vater meinte, sie stelle sich zu dämlich an, obwohl sie es doch schon so oft gemacht habe. Unsere A r beiterfahne hing immer bis Mitte Juli am Haus, vermutlich wegen der aufwendigen Installat i on. Ich fand sie wunderschön. Außerdem war sie pra k tisch, denn man sah kaum noch was von der hässlichen Riffelplasteverkle i dung.
Solange Großvater mich tragen konnte, hielt ich am Ersten Mai vor der E h rentribüne meine seidig schimmernde DDR-Fahne mit dem goldenen Stiel hoch und flirtete mit Erich Honecker. Ein ei n ziger Tag im Jahr war viel zuwenig für das Tragen meiner Fahne, außerdem würde ER mich vergessen!
Meine Handflächen waren golden, der Besenstiel färbte ab. Ich konnte schrubben, wie ich wollte, das Gold blieb. Erst eine Woche später, am 8. Mai, dem »Tag der Befreiung«, hatte ich keine gold e nen Hände mehr. Vor meinen Freunden gab ich damit an, erzählte von meiner Fahne und Erich Honecker und b e hauptete, er sei in mich verliebt. »Er hat die ganze Zeit nur zu mir g e guckt, nur zu mir!«
Später, als ich zu schwer geworden war und Großvater mich nicht mehr tragen konnte, wurde ich vor der Tribüne fast ze r quetscht. Die Werktätigen schoben und drängelten wie verrückt, sie hatten jetzt den besseren Übe r blick. Ich hatte Mühe, meine Fahne hochzuhalten, die nun sowieso ke i ner mehr sah. Auch Erich Honecker und ich sahen uns nicht mehr, die ganze Demonstration war sinnlos geworden.
Gegenüber Großvater hatte ich ein schlechtes Gewissen. Nun mußte er alleine gehen. Großmutter wollte auch nicht mit zur Demo: »Ick muß hier u m graben, weeßte, Spargel stechen und Jenni ihre Jeans waschen.« Zum Abschied winkte ich Großvater mit der Goldb e senfahne hinterher. Gut gelaunt hatte er sich die Taschen mit Bonbons vollgestopft und trottete los: »Na, macht mal, ihr zwei Weibsen.«
Dann erfüllte sich Gustav einen Traum. Wir flogen zu dritt nach Mo s kau, um dort den Ersten Mai zu feiern, gemeinsam mit Mutter und Vater. Vom Hotelzi m mer aus konnten wir die vielen Abspe r rungen sehen. Morgen würde kein einziges Auto fahren, im g e samten Moskauer Zentrum nicht. Hier schien der Erste Mai noch wichtiger zu sein als in der DDR. Man sah es an den aufwendigen Vorbere i tungen. Auch waren wir von Mutter genau instruiert wo r den: »Punkt neun Uhr dreißig steht ihr unten! Uliza Warwarka Ecke Kitajski Prospekt.« Selbstverstän d lich würden wir unten st e hen. Großvater würde sogar schon um neun Uhr dort sein!
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
Acht Uhr Moskauer Zeit. Hotel Rossija, Zimmer 671.
Großmutter verschwindet im Bad. Großvater sieht aus dem Fenster. Er hat a l les genau im Blick. Noch ist es ruhig. Wenig Me n schen, wenig Polizei. Acht Uhr dreißig. Ich muß mal. Großmutter läßt mich ins Bad. Sie hat Lockenwickler im Haar. Großvater sieht aus dem Fenster. Die Menschen unten werden langsam mehr. Acht Uhr fünfundvierzig. Großvater sieht aus dem Fenster. Er tro m melt mit den Fingern an die Scheibe und ruft in Richtung Bad: »Wilma? Bist du bald fe r tig? Was machst du denn so la n ge?« Vor dem Hotel stehen jetzt mehrere hundert Menschen. Polizisten sind auch schon da. Neun Uhr. Ich fahre mit dem dicken braunen Drehsessel aus Kunststoff Karussell. Mir ist langweilig. »Ick hab’s gleich, Täve!« Großmutter ist immer noch im Bad e zimmer. Großvater sieht aus dem Fenster. Er tro m melt jetzt heftiger mit den Fingern an die Scheibe und tritt von einem Bein auf das andere. Unten stehen schon Tausende Menschen. Es wimmelt von Polizei und Or d nungshütern. Neun Uhr fünfzehn. »Wenn du nicht sofort rauskommst, dann gehe ich mit Jenni alle i ne!« »Ick bin ja gleich fertig! Halb zehn, hat Babs jesagt!« Neun Uhr dreißig. Mir ist schwindelig. Gro ß vater steht immer noch am Fenster. Er brüllt: »Komm raus, du alte Kröte! Du dumme Gans hast alles versaut!« In dem Auge n blick stürzt Großmutter aus dem Bad. Sie hat die schönste Turmfrisur ihres Lebens. Kunstvoll hochg e steckte Haare, im Stil der späten Siebziger. Dazu trägt sie das taillierte weiße Kleid mit dem tiefen Au s schnitt, den blauen Punkten und den Puffärmeln. Sie sieht umwerfend aus. Großvater starrt sie an. Er hört auf zu
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