Drei Irre Unterm Flachdach
Leinentuch, Holzkreuz, alles zusammen war viel zu schwer. Genausogut hätten wir eins von Großvaters Ölg e mälden in die Luft schmeißen können.
Armer Gustav. Alles war damals schiefgegangen und hatte die schöne Erinnerung an seine eig e ne Kindheit überschattet: Gern denke ich noch daran, daß mein Vater zum Herbst einen großen Drachen baute. Das war immer eine Freude, wenn er hoch am Hi m mel stand.
Das große Fressen
Großvater hatte eine Menge gewöhnungsbedürftiger Eige n schaften und war r e sistent gegen jede Form der Kritik. Unsere gutgemeinten Ratschläge konnten wir uns schenken. Wir ve r schwendeten nur u n nütz Energie. Also nahmen wir seine Macken hin und legten uns selber welche zu. Großmutter hatte sich darauf spezialisiert, jede soeben geschaffene Or d nung sofort wieder zu zerstören, ich ging in den Keller, um zu schnüffeln. Mit einer Prise NUT intus gefiel mir alles, was Großvater machte, und er fühlte sich in meiner G e genwart sicher. Manchmal war er vollkommen en t hemmt und ließ seinen Launen freien Lauf. Am schlimmsten war es, wenn er Geflügel aß. Dann verfiel er in einen geistigen und körperlichen Ausnahmezustand. Der ganze Mann war nichts als bla n ke Gier. Ich hatte so ein Benehmen noch bei keinem andern Menschen be o bachtet.
Er liebte Geflügel in jeder Form. Die Krönung für ihn war ein saftiges Su p penhuhn. Seine Hühnersuppe war ausgezeichnet, fast noch besser als die Ochsenschwan z suppe, die er, wenn es keine Nordseekrabben gab, an den Abenden vor unsern KZ-Ausflügen kochte. Ochsenschwanzsuppe gab es für alle, die Hühnersuppe teilten wir mittags unter uns beiden auf. Großmutter kriegte den klä g lichen Rest, wenn sie abends erschöpft vom DFD kam. Es war gerade noch so viel im Topf, daß es für einen halben Teller reichte. Das Fleisch war alle, Großvater hatte es fast alleine gegessen. O b wohl ich genauso gern Huhn aß wie er, sagte ich nichts und naschte später heimlich von den Süßigkeiten aus den Westpak e ten. Wilma ging, wenn sie noch Hunger hatte, an den Kühlschrank und stopfte sich den Mund voller Wurst. Am nächsten Mo r gen fuhr sie mit dem Rad schnell zum Fleischer, damit Gustav nicht merkte, daß sie den ganzen Aufschnitt aufgefre s sen hatte. Wir sorgten dafür, daß wir nicht zu kurz k a men.
»Sofort herkommen, es gibt Huhn!« Großvater wartete schon auf mich. Ich schmiß meine Schulmappe in die Ecke, wusch mir die Hände, stürzte in die K ü che und setzte mich auf den mir zugewiesenen Stuhl. Alles mußte wah n sinnig schnell gehen, wie im Stummfilm. Es war ein Wunder, daß Großvater nicht allein ang e fangen hatte mit dem Essen.
Das Küchenhandtuch steckte schon im Kragen, die Schöpfkelle hielt er in der erhobenen Hand. Dann platschte die Suppe auf das weiße Porzellan. Die größten Brocken Hühnerfleisch landeten auf Gustavs Teller.
»Mahlzeit, Jenni!« Seine Stimme rasselte, es klang wie ein B e fehl. Das Gesicht dicht über dem dampfenden Eintopf, fing er an zu essen. Zuerst fischte er mit den Fingern ein Stück Huhn aus der Suppe und ließ das heiße Fleisch sofort zurück auf den Teller fa l len. Im Nu war die Tischdecke voller Fettflecken und mein Kleid total bespritzt. Das Küchenhandtuch in Großvaters Kragen nützte übe r haupt nichts.
Er stürzte sich auf die Fleischstücke, schmatzte und leckte sich unentwegt die Finger ab. Alle fünf nacheinander. Dann nagte er wie ein Hund an den Knochen weiter. Abgekaut bis auf die letzten Fetzen, flogen sie quer durch die ganze K ü che. Großvater warf sie in hohem Bogen hinter sich. Die kleineren Knochenstücke schnippte er über den Eßtisch, an dessen Ende ein imagin ä res Fußballtor stand. Er landete einen Treffer nach dem andern und kicherte hysterisch: »Jawoll! J a woll! Jawoll!«
Ich sah ihm gebannt zu und ekelte mich. Trotzdem kribbelte es mir in den Fingern. Eigentlich war das hier wie Torte n schlacht. Hätte er mich nur ein einziges Mal mi t machen lassen – mein Ekel wäre auf der Stelle verflogen.
Ich wunderte mich. Wenn Großvater, wie alle Menschen, schon im Kinde r garten gelernt hatte, daß man nicht mit Essen wirft, w a rum wollte er dann nichts mehr davon wissen? Ich traute mich nicht, ihn zu fragen. Statt dessen grinste ich blöd und sagte: »Aber Opa!« Das war alles. Da flog der Löffel an die Wand und seine Faust auf den Tisch. »Das machst du niemals nach! Hast du mich versta n den? Niemals! Und wehe, du sagst es wem! Wehe! SO ETWAS
Weitere Kostenlose Bücher