Drei Irre Unterm Flachdach
Großvater wollte alles alleine m a chen. Wenn die Lichter endlich am Baum hingen, mußten wir kommen und staunen. Dann wurde Wilma in den Korridor geschickt: »Frauchen, hol mal die Kisten!« Großmutter gehorchte und schleppte die unzähligen Schachteln mit K u geln, Lametta und buntem Weihnachtsschmuck zum Tanne n baum. Zwar durfte ich die Kugeln reichen, nicht aber das Lametta. Es war sortiert. Jeder einzelne Faden war glattgestrichen und sorgfältig neben den andern gelegt, damit nichts durche i nandergeriet. So konnte man es immer wieder verwenden, worauf Gustav großen Wert legte. Auch Lametta war knapp im Osten.
»Jenni, du holst die Watte!« kommandierte mich Großvater. Ich flitzte los und brachte die sechs großen Pakete, die er extra für Weihnachten bei Drog e rie-Punzel am Bahnhof gekauft hatte. Er riß die Verpackung auf, zerrte die Watte raus, rupfte sie in Stücke und formte kleine Bällchen. Dann bomba r dierte er den Baum mit dem zweckentfremdeten Hygieneartikel. »Auf unsern Baum hat es geschneit, geschneit, geschneiheit, haha!« Großvater sang ausgelassen. Im Wa t terausch verbrauchte er alle sechs Packungen. Unsere Tanne sah, mit so viel Watte b e schmissen, irgendwie beschissen aus. Aber Großvater ging es gut, und das war die Hauptsache.
Dann kam der krönende Abschluß, das Anbringen der Spitze. Unsere Spitze stammte nicht aus dem Zentrum- Warenhaus am Alex, wo alle DDR-Menschen Spitzen kauften. Sie war auch kein Geschenk aus dem Kaufhaus des Westens, von Tante Elektra aus Delmenhorst oder sonst woher. Unsere Spitze war ein von Großvater in mühevoller Handarbeit herg e stellter Sowjetstern. Er war aus der gleichen reißfesten Aluminiumfolie geformt, mit der auch unsere Fensterrahmen verkleidet w a ren. Leuchtend rot prangte er auf der überladenen Dreimetertanne. Ich vera b scheute alle fabrikm ä ßig hergestellten Spitzen. Nur unsere war schön. Einen Moment lang sahen wir alle drei andächtig schweigend an der Tanne e m por, dann war das Baumschmücken beendet.
Während der Feiertage klingelten dauernd fremde Leute bei uns. Es hatte sich im Ort rumgesprochen, daß unsere Bau m spitze ein Sowjetstern war. Alle wollten ihn sehen, sie trauten ihren Ohren nicht. Einige bewunderten, die meisten ve r achteten den Stern. Die ihn verachteten, fand ich doof, denn sie verachteten auch die Sowjetunion, wo meine Eltern studierten und wo Ko m munismus herrschte. Von Großvater wußte ich, daß der Kommunismus was ganz Tolles war, und Mu t ter und Vater lieferten die handfesten Beweise. Sie schwärmten vom Cha m pagner und vom Kaviar, und Mischkakonfekt und bunte Schleifen brachten sie mir i m mer mit von dort. Mutter sang das schöne Lied von Katjuscha und dem Liebe s brief, und Vater deckte sich mit warmen Bärenfotzen ein. Ich bekam jedes Jahr einen Trickfilm mit Hase und Wolf. Es waren die lu s tigsten Trickfilme, die ich kannte. Wenn es Kaviar gab, aßen wir ihn löffelweise, und er schmeckte noch besser als Nordse e krabben. In Champagner konnte man angeblich baden, aber Mutter sagte, sie trinke ihn lieber. Ei n mal hatte sie eine Beule an der Stirn, weil sie wegen des vielen Champagners im Internat gegen die Kl o tür gerannt war. Die Sowjetunion war ein einziger Traum, sie war das Schl a raffenland, der Himmel auf Erden. Und wer es nicht glaubte, der sollte selber hinfahren!
Nach der Baumprozedur verschwand Großvater für längere Zeit. Er wartete in der Garage, bis es dämmerte, und kam dann als Weihnachtsmann verkleidet durch den Garten gestapft. Auf dem Schlitten, den er hinter sich herzog, lag ein riesiger Sack mit Geschenken. In der Hand eine goldene Glocke, bahnte er sich bi m melnd seinen Weg durch den Schnee. Wenn kein Schnee lag, zog er meinen Bollerwagen über den Rasen. Einfach durch die Wohnungstür einz u treten wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Er brauchte den Auftritt durch den Garten, um richtig in Stimmung zu kommen. Es dauerte ewig, bis er an der Verandatür ang e langt war.
Großmutter wurde nervös, wenn er allzu lange wegblieb, und krähte im Staccato unentwegt »Stille Nacht, heilige Nacht«.
Dann wurden die Geschenke verteilt. Jeder mußte ein Gedicht aufs a gen oder ein Lied singen. Ich trug immer das vor, was ich im Kindergarten und später in der Schule gerade gelernt hatte. Großmutter sagte jedes Jahr denselben langwe i ligen Spruch auf: »Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an ...« Bereits an dieser Stelle brach sie vor Rührung in
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