Drei Irre Unterm Flachdach
Tränen aus. Großv a ter hatte Nachsicht und gab ihr das Geschenk trotzdem. Wenn der Sack leer war, ve r schwand er wieder durch den Garten. Wir win k ten ihm nach, bis er um die Ecke bog, und hörten noch lange das Gebimmel der goldenen Glocke.
Wenn Gustav wieder Gustav war, kam der Höhepunkt des Abends, der Balladenvortrag. Allein Ernst von Wildenbruchs »Hexe n lied« war dreizehn Buchseiten lang. Vor Sätzen wie »Medardus ringt in des Satans Krallen« fürc h tete ich mich.
Großvater steigerte sich in seine Rezitation immer mehr hinein und stocherte mit dem Zeigefinger in der Luft rum. »Deren stur m verwehte Asche heut vielleicht an unsern Zungen klebte, deren mürbe Schädel unsrer Rosse Huf zertreten«. Bei dem Wort zertr e ten stampfte er heftig auf. Großmutter, die mit dem Kneten ihres Taschentuchs beschäftigt war, fuhr vor Schreck von ihrem Stuhl hoch. Sie ließ das Tuch fallen, faßte sich ans Herz und rief: »Hach nee! Justav!« Dann sank sie unter Großvaters strafendem Blick – er duldete während des Vortrags keine Zw i schenrufe – auf ihren Stuhl zurück.
Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß gleich was Schreckliches passieren würde. Immer wenn Großvater Balladen vortrug, hatte ich diese seltsam beklemmende Em p findung.
Die Rezitationsabende hatten Struktur. Sie waren in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil handelte von blutigen Schlachten, versunkenen Schiffen, Naturkatastrophen und gra u sigen Mordtaten. Vor der Pause kam »Die Füße im Feuer«. Es war eine komische Ballade. Meine Lie b lingsstelle hieß: »Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie tief mitten in die Glut. Gib ihn heraus! ... Sie schweigt.«
Die Worte »Gib ihn heraus!« richtete Großvater mit drohender Gebärde an Großmutter, die prompt »Ich hab ihn nicht!« rief. Großmutter konnte sich gut einfühlen. Sie steckte tief drin in der Handlung.
Im zweiten Teil ging es um Liebe, Schmerz, Trennung, Tod und Verderben. »Eine welke Blume selber, noch die Wange sanft ger ö tet, ruht sie bei den welken Schwestern; Blumenduft hat sie getötet«, klagte Großvater, und Großmutter schneuzte erneut ins T a schentuch. Es war alles so peinlich, daß ich mir einen Punkt an der Stuckdecke suchte, um die beiden nicht ansehen zu müssen. Mein Po tat weh, und die Augen brannten.
Großvaters Darbietung endete mit der Zeile »Und dann geht die kleine Lampe aus«. Er weinte hemmungslos.
Die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Gustav saß erschöpft im Sessel. Ich traute mich nicht, aufzustehen, und Großmutter rannte ins Bad, um neue T a schentücher zu holen. Dann bettelte sie um eine Zugabe, die den Abend retten sollte. Eine Ballade in ihrem Heimatdialekt. »Bitte, Täve, ›Een Boot is noch b u ten!‹, das ist so schön!« Großvater gab sich einen Ruck und schlug das Ballade n buch wieder auf: »Ahoi! Klas Nielsen und Peter Jehann! Kiekt nach, ob wi noch nich to Mus sind! Ji hewt doch gesehn dem Klabautermann? Gottlob, dat wi wedder to Hus sind!«
Nun war alles wieder gut. Großmutter sprang auf, klatschte in die Hände und grölte: »Dolling, Dolling, Täve! Fröhliche Wei h nacht!«
Westpakete
Wir hatten Glück! Dank unserer üppigen Westverwandtschaft bekamen wir andauernd Westpak e te. Zu Weihnachten kamen die meisten. Der Segen begann zwei Wochen vor dem Fest und endete Mitte Januar. Die letzten Pakete kamen von denen, die erst nach Heiligabend entschieden, was sie von den eigenen Geschenken en t behren konnten, und von denen, die was doppelt hatten. Ihnen verdankten wir die schönen Tage nach dem 24.12. Es waren läge voller unerwarteter Übe r raschungen.
Manchmal lagen zwölf bis fünfzehn Westpakete unter unserm Tannenbaum mit dem Sowjetstern. Großvater sammelte sie in seinem Schlafzimmer und dr a pierte sie dann der Größe nach auf einer dunkelgrünen Weihnachtsdecke. Der Aufbau dauerte. Wi e der und wieder veränderte er die Arrangements und schob die bräunlichen Kisten hin und her wie ein Schaufensterdekorateur. Ich kriegte Lust, die Dinger einfach aufzureißen. Das endlose Geschiebe machte einen wahnsinnig. Aber Großvater kauerte seelenruhig unter den silbernen Wei h nachtskugeln, lugte durch die Zweige und verkündete pathetisch: »Geschen k sendung, keine Handelsware!«
Die größten Pakete hatte ich am liebsten, weil da am meisten drin war. Ich war scharf auf Klamotten und Matchboxautos. Pfe r deposter brauchte ich keine mehr, denn ich hatte die allerschön s ten, seit Mutter mit dem
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