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Drei Irre Unterm Flachdach

Drei Irre Unterm Flachdach

Titel: Drei Irre Unterm Flachdach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastienne Voss
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ich unter einem Vorwand in die Küche. Ihr Hoffen tat weh. Die Füße waren vo l ler Wasser, aufgebläht wie Ballons.
    Mir fielen die Fotos ein, die ich vor zwei Jahren von ihr gemacht hatte, Schwarzweißaufnahmen. Wilma bei der Garte n arbeit, Wilma mit Kopftuch und Spaten. Sie hatte vor der Kamera posiert wie ein Model und einen Heide n spaß daran gehabt, sich zu verstellen, mal die Augen, mal den Mund weit aufg e rissen. Wann war Wilma Voss jemals bei der Gartenarbeit fotografiert worden? Und hi n terher konnte sie die Bilder rumzeigen, ein bißchen angeben. Das war was! Dafür war neben Gustav kein Platz gewesen. Allein die wen i gen Feste hatte es gegeben, auf denen sich Wilma in Szene setzen und zum he m mungslosen Partylöwen werden konnte. Nun lag der Partylöwe todkrank auf dem Sofa und hatte dicke Füße.
    Auf einmal ging es ihr besser. Die Füße schwo l len plötzlich ab. Sie fühlte sich nicht mehr schwach und verreiste, wie angekündigt, an die Ostsee. Wieder z u sammen mit Schwester Mimmi. Sie machten endlose Stran d wanderungen. Trotz Wind und Kälte, es war Anfang März, lief Wilma mit nacktem Oberkörper am Wasser en t lang. Diesmal war Mimmi nicht solidarisch, aber sie knipste. Zu Hause präsentierte uns Großmutter ihr Lieblingsbild vom Urlaub. Ein Gerippe mit Si e gerlächeln stapft durch den weißen Sand am Ostseestrand. Ein altes Mädchen mit kurzen blonden Haaren, Typ Leni Riefenstahl, verwittert, übriggeblieben aus der Zeit des Kö r perkults der dreißiger Jahre.
    Die Fahrt an die Ostsee war Großmutters letzte Reise.
    Nachdem sämtliche homöopathischen Medikamente nicht a n geschlagen hatten, liefen wir von einem Arzt zum andern. Ich saß in überfüllten Warterä u men rum und hoffte auf ein Wunder. I m mer wieder kam Großmutter heulend aus dem Sprechzimmer gestürzt. Niemand machte ihr noch Hoffnung. Unsere Arz t besuche waren nichts weiter als sinnlose Beschäft i gungstherapie.
    Dann kam sie ins Krankenhaus. Ich saß täglich mehrere Stunden an ihrem Bett. Mutter machte gerade eine Kur. Als feststand, daß Großmutter bald sterben würde, kam Mutter zurück nach Be r lin. Sie sah Großmutter verkabelt im Bett liegen, an lauter technische Geräte gefesselt. Püppchen bekam einen Kreislaufkollaps, wurde von zwei Stationsschwe s tern in das zweite, noch freie Bett gelegt und stand erst wieder auf, als Gro ß mutter gestorben war.
    Ich besuchte nun zwei Kranke. Als Stütze nahm ich Paula mit. »Guck mal, wer da ist!« rief ich und schob die Freundin vor mir her ins Krankenzimmer. Gro ß mutter schnellte aus ihren Kissen hoch. »Agathe, die Puppe kotzt! Pa u la, was machst du denn hier?« Die Überraschung war gelungen, nur war nicht ganz klar, ob sie sich darüber freute. Paula setzte sich auf die Bet t kante und erzählte von alten Zeiten. Großmutter erinnerte sich, es wurde ein schöner Nachmittag.
    Am nächsten Morgen hatte sie vom Leben genug. Sie ließ den Oberarzt kommen, zeigte auf die Schläuche und befahl: »A b stellen den ganzen Scheiß! Ich will das nicht mehr!« Mutter unterschrieb mit zittriger Hand einen Vordruck, am Nachmittag wurden die Schläuche entfernt und die Geräte abgestellt. Ohne Schläuche sah Großmutter gar nicht mehr krank aus. Sie schien erleichtert zu sein, das ständige Gurgeln und Piepen der Maschinen hatte en d lich aufgehört.
    Während der nächsten Stunden verlangte sie nach Wodka. Man konnte meinen, sie sei in Feie r laune. Ich feuchtete ein Tuch mit kaltem Wasser an und hielt es ihr an die Lippen.
    Wilma saugte gierig an dem Tuch. Nach drei oder vier »Wodka« rief sie: »Und jetzt singen!« Was um alles in der Welt sollte ich denn singen? Sie diktierte mir: »Alles! Im schönsten Wiesengrunde, Auf der Reeperbahn, Laurenzia, die Moo r soldaten und Stalins Lieblingslied.« Dann nahm sie meine Hand und gab mit ihrem Daumen, den sie in kurzen Abständen in meine Handfläche drückte, eine Art Rhythmus und Tempo vor. Mir blieb nichts weiter übrig als zu singen. Wenn mir Text fehlte, sang Mutter, die ja auch noch da war, vom Bett aus mit. Wir mußten ständig den Kloß im Hals runterschlucken. Aber wir gaben das Letzte und sangen he u lend Großmutters Stimmungslieder. Von Stalins Lieblingslied konnte ich nur die erste Zeile: »Sucht ich, ach, das Grab meiner Liebsten«, doch Mutter half aus. »Überall, o widrig Geschick ...« schepperte es aus dem Kopfki s sen.
    Als wir zum fünften Mal die Reeperbahn sangen, riß eine Schwester die Tür auf und

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