Drei Irre Unterm Flachdach
neues. Ich hatte sowieso vorgeschlagen, ihr ein Rad mit Elektromotor zu besorgen, denn sie transportierte die schweren Bierkisten auf dem Gepäckstä n der. Obwohl wir ein Auto hatten, bestand sie darauf, das Bier mit dem Fahrrad zu holen. Ein Elektromotor kam nicht in Frage. Sie wollte lieber »stra m peln«. Sich ohne körperlichen Einsatz fortzubewegen fand sie dek a dent. »Ick bin doch kein Schnob!«
»Wo ist denn dein Rad?« fragte ich, aber Großmutter antwortete nicht. »Wo ist es? Jetzt sag doch mal!« »Ich habe es in die Hecke geschmissen!« Plötzlich sprach sie hoc h deutsch. »Du hast was?« »Ich nuschel doch nicht! Ich habe es in die Hecke geschmissen!« Sie konnte einen auf die Palme bri n gen. »Warum?« »Ist doch klar: weil es nicht mehr fährt.« »Aber du kannst doch ein Fahrrad, nur weil es nicht mehr fährt, nicht einfach in eine Hecke schmeißen! In welche Hecke überhaupt? Doch hoffentlich nicht in unsere.« »Nee, gleich gegenüber, bei Grü n dick.« Gründick war dick und hatte zu DDR-Zeiten einen grünen Trabant bese s sen, deshalb nannten wir ihn Gründick. »Ausgerechnet bei Gründick? Bist du blöd? Der kennt doch dein Fahrrad! Der denkt, jetzt bist du endgültig überg e schnappt! Komm, wir gehen es holen!«
Großmutter weigerte sich. Ich ging allein. Zwischen Gründicks lädierten Buchsbaumzweigen blitzte der verchromte Lenker von Wilmas altem Fahrrad. Ich zerrte es aus dem Gebüsch und fuhr eine Runde. Die Kette klemmte nicht, die Bremse funktionierte, auf den Reifen war Luft. Nicht mal ein Schutzblech kla p perte. Das Rad war völlig in Ordnung.
Großmutter wollte den ersten Schwächeanfall ihres Lebens nicht wahrhaben. Sie konnte mit so was nicht umgehen. Ein Körper hatte nicht zu streiken, er hatte zu fun k tionieren! Also gab sie dem Fahrrad die Schuld. Den Anfall erwähnte sie nicht, erst viel später erfuhren wir davon. Wir taten das Ganze als Bag a telle ab, wahrscheinlich hatte wirklich nur die Kette geklemmt.
Die Sache geriet in Vergessenheit, wir kauften ihr ein neues Rad, mit Anh ä nger. Großmutter fuhr wie immer jeden Tag in den Ort, um Einkäufe und Erledigungen zu m a chen. Allerdings bat sie Mutter nun doch, die Bierkästen mit dem Auto zu tran s portieren, trotz des Anhängers, den sie »dufte« fand. Püppchen wunderte sich, war aber froh über die späte Einsicht und fragte vorsicht s halber nicht nach.
Innerhalb kurzer Zeit veränderte sich Großmutters Gesicht. Die rosige Hau t farbe wich einer gelblichen Blässe. Ich mußte an Großvater denken, wenn ich sie ansah. Unter den Augen bildeten sich dunkle Schatten. Eines Abends beim Essen sagte sie: »Ick fühl mich so schwach, schon seit ’ner ganzen Weile. Aber zum Arzt jeh ick nich!« Das Wort Arzt hatte sie in b e zug auf sich selbst bisher nur einmal in den Mund genommen. Damals, bei der Affäre mit dem HNO-Professor aus Steglitz. Am nächsten Morgen fuhr Mutter mit ihr in die Klinik, sicherheitshalber. Nach einer Reihe von aufwendigen Untersuchungen stand die D i agnose fest – Blutkrebs.
Großmutter brach zusammen. »Nee, mein Süßer, dit könn Se mir nich antun! Ick will noch ’n bißchen leben!« Schon zwei Tage später war der Schock übe r wunden, und Wilma verkündete, sie leide an einer harmlosen Form der Alter s leukämie, mit der man ohne weiteres hundert Jahre alt werden könne. Den Spezi a listen, die ihr in Anbetracht der ernsten Lage ein baldiges Ende proph e zeiten, glaubte sie kein Wort. Sie glaubte, was sie glauben wollte, und nannte alle, die ihr trotz der niede r schmetternden Diagnose ein langes Leben voraussagten und »zunächst mal was Homöop a thisches« empfahlen, »Götter in Weiß«.
Dank der Naturheilkunde und ihrer Vertreter war Großmutters Lebenswille ungebrochen. Sie fuhr zur Kur nach Karlovy Vary, gemeinsam mit ihrer Schwe s ter Mimmi. Die beiden nuckelten den ganzen Tag Heilwasser aus kleinen blauen Schnabelkännchen. Großmutter nuckelte gegen den Blutkrebs an, Mimmi aus S o lidarität.
Nach einer Woche mußte die Kur abgebrochen werden, weil Großmutter während einer mehrstündigen Wand e rung plötzlich umgekippt war. Wieder zu Hause, konstatierte sie: »Die Straße war einfach zu steil. Das nächste Mal fahr ick an die Ostsee, da is allet flach!« Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und bat mich: »Kiek ma nach, ick glaube, meine Füße sind nich mehr so dick wie j e stern.« Ich schob die Bettdecke zur Seite und log: »Ja, ja, schon viel besser!« Dann ging
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