Drei Minuten mit der Wirklichkeit
ihr zu sprechen. Mit ihr, einer völlig Unbekannten, die der Zufall in diese Stadt gespült hatte wie eine Planke von einem vor langer Zeit gesunkenen Schiff, auf dem ihr Adoptivsohn verschollen war. Aber Giulietta war ja selbst nicht viel mehr als eine sprachlose Erinnerung an ihn. Nieves’ Hasstiraden schossen ihr durch den Kopf. Wie hatte sie ihn genannt? Zombie! Giulietta hatte fast zwei Monate mit ihm verbracht. Aber was bedeutete das jetzt schon? All diese Erinnerungen erschienen ihr längst gespenstisch. Sie konnte dieser Frau hier nicht helfen. Was sollte sie ihr denn erzählen? Dass ihr Adoptivsohn ein großer Tanzstar und Egomane geworden war, dem nichts Besseres einfiel, als seine Verstörung an seine Umgebung weiterzureichen? Außerdem wollte sie die Notlüge, die sie Ortmann aufgetischt hatte, nicht preisgeben. Doch Frau Alsinas nächster Satz erzwang genau dies.
»Sie sind ihm begegnet, nicht wahr?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Sollte sie lügen? Die Frau tat ihr Leid. Ihr sekundenlanges Zögern, bevor sie eine Antwort gefunden hatte, reichte ohnehin aus, um sie zu entlarven. Sie trat die Flucht nach vorne an und sagte: »Wir haben uns in Berlin kennen gelernt und nach einem großen Missverständnis wieder getrennt. All dies einem Fremden wie Herrn Ortmann erklären zu müssen, war mir unangenehm und erschien mir außerdem überflüssig.«
Frau Alsina lächelte kurz. »Je älter ich werde, je sicherer wird mein Gespür für das Verhalten von Frauen … ganz im Gegensatz zu den Männern, die mir heute noch rätselhafter sind als damals, als ich in Ihrem Alter war. Giulietta … wenn ich Sie so nennen darf …?«
»Aber ja, sicher …«
»… als ich Sie vorhin im Hotel sah, hatte ich zwei Gedanken. Den ersten haben Sie soeben bestätigt. Für den zweiten gibt es wohl keine einfache Erklärung. Oder warum sollte Damián eine außergewöhnlich schöne und charmante Frau, wie Sie es sind, eines Missverständnisses wegen verlassen?«
Giulietta presste die Lippen zusammen und versuchte, die Kontrolle über dieses Gespräch und ihre Gefühle zu behalten, was ihr jedoch nicht so recht gelingen wollte. Diese Frau wollte alles über Damián erfahren. Und das Kompliment sollte ihr die Zunge lösen. Gleichzeitig wusste Frau Alsina mehr über Damián als jeder andere Mensch, den sie jemals zu treffen hoffen konnte. Und diese Frau kam ausgerechnet zu ihr. Als hätten sie beide jeweils die Hälfte einer Landkarte, die zu einem Schatz führt. In wenigen Stunden würde sie ihn vielleicht treffen. Vielleicht aber auch nicht. Und sie wusste nicht einmal mehr, ob sie das überhaupt noch wollte. Sie wehrte sich gegen die Einsicht, aber es stimmte: Sie hatte auf einmal Angst, ihm zu begegnen. Jedoch die Versuchung, gefahrlos und auf Umwegen in seine Nähe zu kommen, war zu groß.
»Es war kein Missverständnis«, begann sie und erzählte in knappen Zügen die Geschichte ihrer Begegnung. Warum Damián nach Berlin gekommen war und durch welchen Zufall sie sich getroffen hatten. Von der verpatzten Aufführung und dem Zwischenfall mit ihrem Vater erwähnte sie nichts. »Er hat mich wegen Nieves verlassen«, schloss sie und wunderte sich sogleich, wie logisch das klang, wenngleich sie selbst nicht so recht daran glaubte. »Vielleicht treffe ich ihn noch, bevor ich abreise. Aber es wird an der Situation zwischen uns nichts ändern. Ich bin nicht allein seinetwegen hier.« Erst als sie das gesagt hatte, wurde ihr klar, dass dies zutraf. Sie war Damián gefolgt. Aber im Grunde suchte sie hier noch etwas anderes. Für einen kurzen Augenblick hatte sie plötzlich sogar den Eindruck, als sei ihre Suche nach Damián vielleicht nur zweitrangig. Das Bild ihres Vaters schoss ihr durch den Kopf, dieses absurde, unerträgliche Bild, wie sie ihn in ihrer Wohnung gefunden hatte: auf einen Stuhl gefesselt, geknebelt, hilflos und zugleich bedrohlich für sie. Warum bedrohlich?
Frau Alsina unterbrach ihre Gedanken. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte. Fragen Sie.«
»Hat er Ihnen irgendetwas von uns erzählt? Ich meine, hat er über uns gesprochen, in irgendeiner Form?«
»Nein. Das hat er nicht.«
Täuschte sie sich, oder huschte da ein Schatten von Erleichterung über Frau Alsinas Gesicht?
»Ich kann Ihren Kummer nachempfinden«, sagte Giulietta. »Aber Damián hat seinen Weg gefunden. Ich weiß nicht, ob Sie das tröstet. Er ist ein großartiger Tänzer. Ohne Sie wäre er das wahrscheinlich nicht geworden. Ich bin
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