Drei Minuten mit der Wirklichkeit
von eins nach drei. Aber er tut das. Und warum? Weil die Differenz zwei beträgt. Das ist sein a. Dadurch verschiebt sich natürlich die nachfolgende Kette. B ist der zweite Buchstabe des Alphabets. Aber die Zwei ist schon durch das a besetzt. Also wird b durch die Drei codiert sein, c durch die Vier und so weiter. Dazwischen fallen natürlich noch andere Kombinationen weg. Es gibt ja nur acht Positionen. Spätestens beim neunten Buchstaben muss er sich etwas Neues einfallen lassen. Ich habe ewig lang herumprobiert. Die einfachste Lösung, auf die ich gekommen bin, ist die, die du hier in Spalte drei siehst. Und wenn ich das anwende, kommt
paraluisa
heraus.«
»Und was soll das heißen?«, frage Giulietta verwundert.
»
Para Luisa
.
Für Luisa
. Keine Ahnung. Es liest sich wie ein Widmung für ein Mädchen oder ein Frau. Vielleicht seine Schwester?«
»Damián hat keine Schwester.«
»Nun, irgendeine Frau eben, die ihm 1997 etwas bedeutet hat.«
»Und was soll dieser ganze Hokuspokus?« Giulietta war plötzlich genervt. Sie schob die Blätter wütend von sich weg und stand vom Tisch auf. »Ich fliege morgen heim. Das interessiert mich alles nicht.«
Lindsey schaute sie mitleidig an. Dann schob sie ihr den Packen Papier hin, beugte sich über den Tisch und umkringelte mehrfach eine weitere Nummernfolge und die dazugehörige Transkription.
»Herbst 1998«, sagte sie. »Getanzt im Parakultural.«
Giulietta schaute widerwillig auf das Blatt und betrachtete kurz die Zahlen und die darunter stehenden Buchstaben.
Nosoyalsina
stand da.
»Ich kann das nicht lesen.«
Lindsey fügte Striche ein.
no/soy/alsina
, stand jetzt auf dem Papier.
»Und? Was heißt das?«
»Das heißt genau das, was Nieves dir heute gesagt hat: ich bin kein Alsina.«
»Und?, wen interessiert …«
Aber die Frage blieb ihr im Hals stecken. Lindsey lehnte sich zurück und kramte eine frische Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche. Giulietta stützte die Ellbogen auf, ließ ihren Kopf auf die Hände sinken und starrte auf das Papier vor sich auf dem Tisch.
»Aber wenn … ich meine … warum so geheimnisvoll … das ist doch keine Schande … wie viele adoptierte Kinder gibt es?«
Lindsey zog an ihrer Zigarette und schaute sie durch den Rauch hindurch an.
»Viele«, sagte sie schließlich. »Mehr als man glaubt.«
19
D ie Frau saß im Halbdunkel des kleinen Foyers in einem Sessel und erhob sich lautlos, als Giulietta das Hotel betrat.
»Miss Battin?«
Giulietta blieb erschrocken stehen. »Sorry …«, stammelte sie.
Die Frau kam zwei Schritte auf sie zu. »Maria Alsina«, sagte sie. »Nice to meet you.«
Giulietta errötete. Was um alles in der Welt geschah hier eigentlich? Diese Frau? Warum war sie hier? Wie lange mochte sie hier gewartet haben?
»Es tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Das war nicht meine Absicht.«
Sie blieb einfach stehen und schaute sie neugierig an. Giulietta wusste nicht, was sie tun sollte. Sie in ihr Zimmer bitten? Auf sie zugehen? Ihr die Hand schütteln? Aber war es nicht an ihr, sich zu erklären?
Die peinliche Pause dauerte einige Augenblicke. Vielleicht war Damiáns Mutter genauso verrückt wie ihr Sohn? Aber es war ja offenbar gar nicht ihr Sohn, wie sich mittlerweile herausgestellt hatte. Giulietta entdeckte auch keine Spur von Damián in dem Gesicht vor ihr. Die Frau sah italienisch aus. Sie war sicher einmal schön gewesen. Jetzt war sie es nicht mehr. Sie wirkte streng mit ihrer hohen Stirn, über der sich dünnes schwarzes Haar eng an die Kopfhaut gepresst zu beiden Seiten teilte, so dass die Scheitellinie weißlich sichtbar war. Um die braunen Augen herum lagen viele Falten, die unter den Lidern bereits erste Anzeichen erkennen ließen, sich zu Tränensäcken auszubeulen. Die schöne Nase und die sorgfältig geschminkten Lippen schienen noch aus einer anderen Zeit zu stammen, vermochten die frühe Alterung, die aus den Augen sprach, jedoch nicht zu dämpfen. Leicht eingefallene Schläfen und hervortretende Wangenknochen unterstrichen diese Tendenz. Sie trug lärmenden Goldschmuck, der ihr nicht gut stand. Filigranes Silber hätte besser zu ihrer hellen Haut und den pechschwarzen Haaren gepasst, dachte Giulietta überflüssigerweise. Aber warum fiel ihr das überhaupt auf? Das Unpassendste war doch wohl, dass sie überhaupt hier erschienen war.
»Sie wundern sich bestimmt, dass ich Sie aufsuche«, begann sie und nahm ihre Handtasche in die andere Hand. »Es ist sogar fast ein
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