Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Speisekarten zurück. Ein Mobiltelefon klingelte. Frau Alsina führte ein kurzes Gespräch, das ihrerseits aus den emotionslos gesprochenen Worten »Sí«, »No«, »No«, »Sí« bestand. Dann verstaute sie den Apparat in ihrer Handtasche und begann unvermittelt zu reden. Die ersten Sätze richtete sie dabei noch an die Tischdecke. Erst allmählich schaute sie auf und suchte Giuliettas Augen.
»Damián ist nicht mein wirklicher Sohn. Er hat im Alter von fünfzehn Jahren erfahren, dass wir, also mein Mann und ich, nicht seine wirklichen Eltern sind. Damián ist ein Waisenkind. Er wurde im September des Jahres 1976 in der Nähe einer der vielen Hüttensiedlungen am Stadtrand in einem Hauseingang gefunden. Er war höchstens eine Woche alt.«
Der Kellner kam und stellte die Getränke auf den Tisch. Giulietta spielte mit ihrem Glas, trank jedoch nicht. Die Frau vor ihr strahlte plötzlich eine seltsame Ruhe aus, als habe sie beschlossen, eine Beichte abzulegen, und spürte nun nach den ersten, stockenden Ansätzen eine gewisse Befreiung.
»Wir haben Damián seine wahre Herkunft zu lange verschwiegen. Das war falsch, aber wir haben uns damals für diese Vorgehensweise entschieden. Es ist auch für Adoptiveltern nach einer gewissen Zeit nicht einfach, sich einzugestehen, dass das Kind, welches man aufgenommen und zu lieben begonnen hat, nicht das eigene sein soll. Wir wollten warten, bis Damián reif genug war, zu begreifen, und zugleich noch Kind genug, um wirklich vergessen zu können. Diesen Moment haben wir verpasst. Vielleicht gibt es diesen Moment auch gar nicht. Damián erfuhr erst im Alter von fünfzehn Jahren, dass wir nicht seine wirklichen Eltern sind. Sie werden sich vorstellen können, was für ein Schock das für ihn war.«
Giulietta nickte.
»Fünfzehn ist ohnehin kein leichtes Alter für einen Jungen. Mein Mann ist kein einfacher Mensch, und es gab in dieser Zeit zwischen ihm und Damián viele Auseinandersetzungen, was wohl zwischen Vater und Sohn durchaus normal ist. Ausgerechnet bei einem dieser Streits ist es dann herausgekommen. Ich könnte Ihnen diese Szene noch heute in allen Einzelheiten schildern. Ich erlebe sie seither fast jede Nacht und sehe Damián wie vom Donner gerührt in unserem Wohnzimmer stehen. Es ist unverzeihlich, was mein Mann ihm damals angetan hat, nur um in einem dummen Streit die Oberhand zu behalten. Aber man kann so viel bereuen, wie man möchte, es macht die Dinge nicht ungeschehen.«
Sie unterbrach sich kurz. Ihre Stimme war bisher normal und ruhig gewesen. Jetzt wurde sie ein wenig leiser.
»Die darauf folgenden eineinhalb Jahre waren schrecklich. Für uns alle. Wir haben alles versucht, unseren Fehler wieder gutzumachen. Aber es war hoffnungslos. Als Damián plötzlich einfach auszog, war ich daher zunächst erleichtert. Ich konnte weder das Schweigen noch das Geschrei länger ertragen. Und außer Schweigen und Geschrei gab es nach diesem Zwischenfall nichts mehr. Ich bilde mir ein, ich hätte ihn zurückgewinnen können. Aber zwischen Damián und meinem Mann war alles zerstört. Sie hassten sich. Mein Mann ist sicher nicht ganz unschuldig daran, dass die Situation eskalierte. Aber Damián wusste auch genau, wie er ihn reizen und quälen konnte. Und das tat er auch. Erbarmungslos. Mein Mann ist aufbrausend und jähzornig. Aber er ist kein schlechter Mensch. Und er hat Damián geliebt. Auf seine Weise. Das weiß ich genau. Er hat dem Jungen etwas Furchtbares angetan, doch Damián hat es ihm hundertfach heimgezahlt.«
Frau Alsina machte eine Pause und schaute betreten zur Seite. Giulietta spielte nervös mit ihrem Glas, und obwohl es ihr unpassend erschien, trank sie schließlich einen Schluck Tomatensaft. Gar nichts zu tun und einfach schweigend dazusitzen, wäre noch merkwürdiger gewesen.
»Ich habe alles versucht, die Verbindung zu ihm aufrechtzuerhalten«, fuhr Frau Alsina fort. »Anfangs gelang es mir noch, ihn ausfindig zu machen. Er hatte sich ja in diese Tangotänzerin verliebt und manche seiner alten Schulfreunde wussten zumindest gerüchteweise, wo er sich herumtrieb. Als er jedoch wegen der verpassten Examina der Schule verwiesen wurde, zog mein Mann die Konsequenz und betrachtete Damián als verloren. Er verbot mir jeglichen Kontakt zu ihm und löschte ihn aus unserem Leben.«
Sie unterbrach sich erneut, räusperte sich, nahm ihre Rede jedoch nicht sogleich wieder auf. Giulietta konnte plötzlich ermessen, wie schwer es dieser Frau fallen musste, so mit
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