Drei Minuten mit der Wirklichkeit
wenig ungehörig, nicht wahr? Ich will Sie nicht lange belästigen.«
»Hat Herr Ortmann Sie benachrichtigt?«, fragte Giulietta schüchtern, nur um überhaupt etwas zu sagen.
Sie schaute kurz zu Boden und fixierte sie dann erneut.
»Ich will es kurz machen, Frau Battin. Sie sind seit sechs Jahren das erste Lebenszeichen, das ich von meinem Sohn habe …«
Giulietta setzte zu einer Erwiderung an, und Frau Alsina unterbrach sich sofort. Aber die Worte blieben ihr einfach im Hals stecken. Sie blickte hilflos um sich, peinlich berührt durch die Situation, die ihr allmählich über den Kopf wuchs. Gab es um diesen Mann herum denn nichts als verstörte Menschen?
Frau Alsina sah, dass sie nichts erwiderte, und nahm ihre Rede wieder auf: »… und daher habe ich es nicht fertig gebracht, länger zu warten und zu riskieren, Sie zu verpassen. Sie müssen freilich nicht mit mir sprechen. Es ist mir sehr schwer gefallen, Sie aufzusuchen, und bitte nehmen Sie die Ungehörigkeit als Maßstab meiner Verzweiflung.«
»… nein, nein … ich meine … natürlich bin ich überrascht, aber …«
Giulietta ließ den Satz resigniert in der Luft hängen, ging zwei Schritte auf die Frau zu und schüttelte ihre Hand. »Ich hätte mich bei Ihnen gemeldet. Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Sollten wir uns vielleicht irgendwo treffen … später meine ich, heute Abend oder morgen?«
Aufschub, dachte sie. Aufschub war immer ein Weg.
»Mein Wagen steht unten. Wir könnten eine Kleinigkeit zusammen essen, wenn Sie Zeit hätten?«
Wenn sie Zeit hätte? Natürlich hatte sie Zeit. Aber warum schien Frau Alsina keine zu haben? Warum diese Eile? Giulietta schaute auf die Uhr. Sie wusste ohnehin, dass es halb acht Uhr abends war. Ihre Verabredung mit Lindsey war um halb zwölf. Die Tangoparty begann wie üblich nicht vor Mitternacht. Sie wollte überlegen. Sie wollte die Kontrolle über die Situation behalten, die ihr zunehmend entglitt. Welche Situation überhaupt?
»Schön«, sagte sie. »Ich muss mich nur kurz fertig machen.«
»Danke. Ich warte unten im Wagen auf Sie.«
Frau Alsina verschwand im Treppenhaus. Giulietta lief ans Fenster am Ende des Flurs und schaute auf die Straße hinab. Noch bevor die Frau aus der Tür trat, fuhr eine silbergraue Limousine vor. Ein uniformierter Fahrer stieg aus und öffnete die hintere Tür. Frau Alsina verschwand in dem Wagen. Der Fahrer ging um das Fahrzeug herum, stieg wieder ein und schaltete die Warnblinklichter an.
Giulietta eilte in ihr Zimmer und streifte das noch immer ein wenig feuchte Kleid ab. Sie überlegte kurz und entschied sich für Jeans und T-Shirt. Allerdings zog sie ihren Eyeliner nach und legte ein wenig Rouge auf. Am liebsten hätte sie eine Maske aufgesetzt.
Das Wageninnere war eiskalt und Giulietta fröstelte, kaum dass sie eingestiegen war.
Frau Alsina bemerkte ihre Gänsehaut und rief dem Fahrer etwas zu. Im Übrigen sagte sie nur: »Wir fahren nicht sehr weit. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Fünf Minuten später hielt der Wagen an einem kleinen Park. Sie stiegen aus und spazierten an einigen Restaurants vorbei, die den Park säumten. Es herrschte nicht viel Betrieb, aber Frau Alsina verwendete besondere Mühe darauf, einen etwas abgeschiedenen Tisch zu finden.
»Dieser Stadtteil heißt La Recoleta«, sagte sie. »Sind Sie schon einmal hier gewesen?«
»Nein. Leider nicht. Eine hübsche Gegend.«
»Haben Sie schon viel besichtigt?«
Was sollte sie bloß sagen? Sie hatte überhaupt nichts besichtigt und auch keinerlei Lust dazu.
»Nein«, erwiderte sie ehrlich und schob dann ihre kleine Notlüge hinterher. »Ich bin beruflich hier.«
Der Kellner brachte die Speisekarte. Allein der Gedanke an Essen war Giulietta zuwider. Ganz gleichgültig, welche katastrophalen Folgen diese Reise nach Buenos Aires für ihre Ballett-Karriere haben würde – immerhin würde sie hier nicht zunehmen. Im Gegenteil. Sie musste aufpassen, nicht ins andere Extrem zu verfallen. Sie schielte verstohlen auf Frau Alsinas Gesicht, als würde dort jeden Augenblick eine Erklärung für dieses eigenartige Treffen sichtbar werden. Aber das Einzige, was sie dort sah, waren Müdigkeit und Resignation. Jetzt, bei Tageslicht, sah sie neben den Falten auch noch Pigmentflecke unter der sorgfältig aufgetragenen Schminke durchscheinen.
»Ich möchte nur einen Tomatensaft«, sagte Giulietta schließlich.
Die Frau nickte, bestellte für sich einen Orangensaft und reichte dem Kellner die
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