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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Tango-Clubs von Buenos Aires. Das Lokal sah eher aus wie eine Montagehalle, in der tagsüber Flugzeuge oder Busse zusammenmontiert wurden. Unter einem gewaltigen Wellblechdach, das sich über einem Gewirr von rostigen Verstrebungen wölbte, hingen Scheinwerfer, welche die Tanzfläche flutlichtartig ausleuchteten. Auf halber Höhe zog sich ein wulstiges Lüftungsrohr die Wände entlang. In unregelmäßigen Abständen gähnte ein Loch darin. Rostige Aufhängungen an den Lochrändern zeugten von abgebrochenen Lamellen. Über dem Rohr waren in staubüberzogenen Drahtkäfigen Domino-Ventilatoren angebracht, deren Rotorblätter allerdings stillstanden.
    Giulietta musterte die Tafeln an den Wänden, wo in verwischter Kreideschrift die Ergebnisse irgendwelcher Spielbegegnungen verzeichnet waren. Auf dem Steinboden der Tanzfläche, die von Tischen umgrenzt war, zeichneten sich Strafstoßellipsen ab. Offenbar wurden hier tagsüber keine Turbinen zusammengeschraubt, sondern Basketball gespielt.
    Ein Kellner erschien und geleitete sie zu einem Tisch.
    »Was trinkst du?«, fragte Lindsey, nachdem sie Platz genommen hatten.
    Sie wandte sich dem Kellner zu, einem kleinen, untersetzten Mann mit ernstem Gesicht und tief heruntergezogenen Mundwinkeln, und formulierte so gut sie konnte: »Agua sin gas, por favor.« Der Mann nickte. Lindsey bestellte ein Bier, warf ihre Zigarettenschachtel auf den Tisch und zog den Aschenbecher heran.
    Es war bereits nach Mitternacht, aber die Halle füllte sich erst jetzt allmählich. Die Akustik war grauenvoll, was allerdings niemanden zu stören schien. Die ganze Szenerie rief ein seltsames Gefühl in Giulietta hervor. In seiner ganzen armseligen Improvisiertheit haftete diesem Ort etwas Magisches an. Sie beobachtete die Leute, die an den Nachbartischen Platz nahmen. Es waren durchweg alte, einfach wirkende Menschen. Sie begrüßten sich liebevoll, per Küsschen und Umarmung, selbst die Männer. Lindsey war Giuliettas Blick gefolgt und sagte jetzt: »Wie in einem Altenheim, nicht wahr?«
    »Ich glaube nicht, dass ich allein hierher kommen würde«, erwiderte sie.
    »Das sind eben die dreißig verlorenen Jahre. Es fehlt dem Tango eine ganze Generation. Das Gros ist unter dreißig oder über sechzig.«
    Der Kellner kam heran und jonglierte auf einem runden Blechtablett drei Dosen Quilmes-Bier, drei Plastikflaschen mit Wasser sowie einen Sektkühler mit einer Flasche Champagner, der für den Nachbartisch bestimmt war. Lindsey wechselte ein paar Worte mit dem Mann, während er ihre Getränke ablud, doch das Einzige, was sie immer wieder aus den Gesprächsfetzen heraushörte, war jenes allgegenwärtige
mira vos
.
    »Was heißt eigentlich
mira vos
? Man hört das überall.«
    »Eigentlich nichts. So viel wie
So so
,
schau an

    »Wieso
vos
? Ist das so etwas wie
vous
? Siezen die sich hier alle?«
    »Man sagt hier nicht
tu
, sondern
vos
. Das ist eben so. Anstelle von
tu eres
sagen sie hier
vos sos
. Buenos Aires Pidginspanisch. Wie dieses
Che

    »Und was heißt
Che

    »Alles und nichts. He, Mann oder so. Aber das Wort gibts nur hier. Im Grunde ist alles, was von hier kommt, ein Che.«
    »Che Guevara.«
    »Ja. Der auch. Ich habe da so eine Theorie. Du musst dir vorstellen, wie es in La Boca unten am Hafen zuging, als diese ganzen Einwanderer ankamen. Da wird dann ganz schnell eine Sprache hergestellt. Nehmen wir mal an, ein Pole irrt durch die Gassen und sucht ein Mädchen, das er vielleicht auf dem Schiff gesehen hat. Sie ist natürlich Italienerin. Die meisten hier haben italienische Vorfahren. Nennen wir sie Maria. Der Pole fragt sich durch mit seinen drei Brocken Spanisch.
Donde Maria
?, sagt er. Wo ist Maria? Schulterzucken.
Non c’ è
, antworten ihm die Italiener und feixen. Das merkt sich der Pole.
Maria
und der Laut
tsche
hängen irgendwie zusammen. An der nächsten Ecke jongliert er mit seiner neuen Information herum. Maria
tsche
?
Tsche
Maria? Die Italiener machen sich lustig über ihn.
Hey, che,
wie geht’s denn so,
che
. Der Partikel beginnt sein Eigenleben, bis er alles und jeden bezeichnen kann. Wie läuft’s denn so, Che? Typisch argentinisch. Eine kleine Erinnerung an die Zeit, als noch jeder jeden gesucht hat.«
    »Ist das wirklich so gewesen?«
    »Keine Ahnung. Was ist hier schon wirklich. Ein Land wie das hier ist eine Dauererfindung. Es ist, wie wenn man ein paar tausend Koffer ausschüttet, den Inhalt durcheinandermischt und dann neu packt. Unmöglich, genau zu sagen, was

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