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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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einmal wem gehört hat. Wie im Tango. Sobald du versuchst, den Ursprung von etwas zu finden, wirst du wahnsinnig. Es gibt immer nur Spuren. Und Spuren von Spuren.«
    Giulietta musterte nervös jeden neuen Gast, der zwischen den Vorhängen am Eingang erschien, nippte an ihrem Wasser und beneidete Lindsey darum, dass sie die Zeit mit Rauchen füllen konnte. Sie war plötzlich überzeugt, dass Damián hier nicht auftauchen würde. Es wäre, nach allem, was geschehen war, zu einfach gewesen. Die unheilvolle Ahnung, die sie gestern Nacht heimgesucht hatte, war wieder da. Die Begegnung mit Frau Alsina hatte das noch verstärkt. Auch mit dieser Frau stimmte etwas nicht. Warum um alles in der Welt hatte sie sie aufgesucht? Damián lebte in Buenos Aires. Er war ein bekannter Tänzer. Seine Mutter hätte längst versuchen können, wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen. Warum auf diese Art und Weise? Warum jetzt? Sie hatte, während sie auf Lindsey wartete, auf dem Balkon gesessen und den Zettel mit der Telefonnummer angestarrt. Sie hielt ihn gegen das Licht und betrachtete das Wasserzeichen. MDA . Und im Nachhinein war es ihr aufgefallen: das Telefongespräch.
    Sí. No. No. Sí.
    Keine Begrüßung. Kein Name. Es war ein unerwarteter Anruf einer bekannten Person gewesen. Und dieser Anruf hatte bei Frau Alsina etwas ausgelöst. Giulietta erkannte es erst jetzt. Der Klang ihrer Stimme. Die Knappheit ihrer Erwiderungen.
    Sí. No. No. Sí.
    Die Frau hatte Angst gehabt.

21
    D ie Stimme des Ansagers riss sie aus ihren Gedanken. Lindsey hörte amüsiert zu und übersetzte hier und da die wichtigsten Meldungen, was heute Abend alles gefeiert wurde, wer gekommen war, wer fehlte und was es bei der späteren Verlosung zu gewinnen gab (ein silbernes Tablett). Lindsey war in ihrem Element.
    »Merkst du den Unterschied zu gestern?«
    »Na ja, die Leute sind älter und das Licht ist grell.«
    »Nein, ich meine die Kleidung der Männer. Gestern waren auch ältere Leute da, aber sie waren sportlich gekleidet. Heute nicht. Hier nicht.«
    »Na und?«
    »Eben. Das hat einen Grund. Das hier ist ein anderer Salon. Andere Regeln. Die Männer kommen mit ihren Frauen, also machen sie sich richtig chic. Ins Almagro schleichen sie heimlich, da können sie sich nicht so sehr herausputzen. Im
Italia Unita
gibt es sogar eine Art Umkleideraum. Die Frauen kommen im Yoga-Dress oder mit Aerobic-Strümpfen und haben Tanzkleid und Schuhe in der Tasche dabei.«
    »Und warum der Umstand?«
    »Wegen der Ehemänner.«
    »Die lieben hier wirklich Geheimnistuerei, nicht wahr?«
    »So würde ich es nicht nennen. Diskretion eher. Man schützt sich und den anderen vor Peinlichkeiten, vor Bloßstellungen. Stell dir vor, was vor ein paar Wochen passiert ist!«
    Sie rückte näher an Giulietta heran, um nicht so sehr gegen die Musik anschreien zu müssen. »Es ist Mittwochnachmittag, halb fünf. Der Tanzsaal im
Italia Unita
platzt aus allen Nähten. Es waren vielleicht zweihundert Leute da, Jung und Alt, bunt gemischt. Plötzlich tauchte ein Fernsehteam von
Solo Tango
auf.«
    »Solo Tango?«
    »Das ist ein Fernsehprogramm. Die berichten Tag und Nacht über alle möglichen Dinge, die mit Tango zusammenhängen, also Feste, Konzerte, Shows, Musik und so weiter. Kaum war das Fernsehteam in Stellung gegangen, betrat kein Mensch mehr die Tanzfläche. Ich war mit einer Freundin da, und so ganz allein wollten wir natürlich auch nicht tanzen. Es stellte sich heraus, dass viele Leute unter keinen Umständen gefilmt werden wollten, weil sie Angst hatten, dass sie am Abend oder am nächsten Tag im Fernsehen gesehen werden könnten. Die Fernsehleute waren sauer. Also boten sie an, nur im vorderen Teil des Saales zu filmen, und wer ein Problem habe, könne ja im hinteren Teil tanzen. Weißt du, wie viele Paare vorne getanzt haben?«
    Giulietta schüttelte den Kopf.
    »Drei!«
    Sie unterbrach sich und senkte die Stimme: »… schau, das ist Nestor.«
    Giulietta schaute auf die Tanzfläche. Sie hatte den Eindruck, der Mann führe keine Frau, sondern eine hauchdünne Porzellanvase übers Parkett, so behutsam waren seine Bewegungen. Sie betrachtete kurz sein Gesicht, den ins Nirgendwo gerichteten Blick, die vor Konzentration in tiefe Falten gelegte Stirn. Ohne zu wissen, warum, fühlte sie auf einmal einen unerklärlichen Widerwillen gegen die Umgebung hier, gegen diese Menschen und ihre melancholischen Rituale. Lindsey mochte ihr auch noch die letzte versteckte Bedeutung der Tango-Kultur

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