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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sicher, dass er Ihnen dafür in irgendeinem Winkel seines Herzens dankbar ist, auch wenn er es Ihnen vielleicht nicht zeigen kann. Er hat mich für eine kurze Zeit sehr glücklich gemacht. Und dann sehr unglücklich. Aber das ist nichts Außergewöhnliches. Früher oder später tut das jeder von uns. Ich kann Ihnen nicht helfen, Frau Alsina. Ich verstehe, was Sie bewegt, aber … ich muss jetzt gehen.«
    »Warten Sie, ich lasse den Wagen kommen und bringe Sie ins Hotel zurück.«
    Sie hatte bereits ihr Mobiltelefon in der Hand und drückte auf den Tasten herum. Aber Giulietta lehnte zunächst freundlich und schließlich bestimmt ab. Sie wollte gehen, ihren Körper spüren, durch Straßen spazieren, die sie an nichts erinnerten. Diese würgende Traurigkeit war plötzlich wieder da. Sein Gesicht über ihr; die ersten Stunden am ersten Abend ihrer Begegnung; der Augenblick, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Sie wollte nur noch weg. Weg von dieser Frau, aus diesem Restaurant. Sie hatte plötzlich Sehnsucht nach Tangomusik, freute sich fast darauf, bald in einer
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zu sitzen, den Paaren beim Tanzen zuzuschauen und zu vergessen. Sie wollte jenes Lied wieder hören, diese rauchige, französische Stimme.
Lourd, soudain semble lourd …
Wenigstens ein Geheimnis hatte sie auf ihrer Reise gelüftet: sie verstand jetzt, aus welchem Stoff diese Musik bestand. Diese bewohnbare Traurigkeit. Diese Musik vermochte es, sie für Augenblicke mit der totalen Unmöglichkeit sämtlicher ihrer Wünsche zu versöhnen.
    Sie nahm kaum noch richtig wahr, dass Frau Alsina einen Notizblock aus der Tasche zog und eine Telefonnummer aufschrieb. »Es ist die Nummer in unserem Landhaus. Wir sind ab morgen Abend nicht mehr in der Stadt, und dort draußen funktioniert das Funktelefon nicht. Bitte rufen Sie mich an, bevor sie nach Hause fliegen, und sagen Sie mir, ob Sie Damián getroffen haben. Oder geben Sie ihm diese Nummer, falls Sie ihn treffen. Er soll mich unbedingt anrufen. Unbedingt. Würden Sie das für mich tun?« Giulietta nahm das Stück Papier entgegen und nickte. Sie betrachtete kurz die Notiz. Es war das gleiche edle Papier, das sie gestern an der Tür zu ihrem Hotelzimmer gefunden hatte. Giulietta versprach anzurufen, verabschiedete sich dann schnell und schlug die Wegrichtung zu ihrem Hotel ein. Was ging sie das alles an? Sie würde nachher in den
Club Sunderland
fahren. Dies wäre ihre letzte Unternehmung. Morgen kam ihr Vater. Sie würde zu ihm gehen, mit ihm reden und dann mit ihm nach Berlin zurückfliegen. Das Ziehen in ihrer Kehle, der furchtbare Druck auf ihrer Brust, die Schlieren vor ihren Augen – das würde vergehen. Mein Gott, sie war neunzehn Jahre alt. Sie hatte ihre erste große Liebe erlebt. Und das Wesen einer jeden ersten großen Liebe war, dass sie nicht überdauerte, dass sie verging, ohne jemals wirklich zu vergehen. Es war die Vertreibung aus dem Paradies, die notwendig war, um ein Mensch zu werden.
    Das Paradies war unbewohnbar.

20
    D ie Taxifahrt dauerte fast eine halbe Stunde. Lindsey saß vorne und unterhielt sich mit dem Fahrer, während Giulietta erfolglos versuchte, die Orientierung zu behalten. Sie fuhren durch Seitenstraßen, dann ein Stück auf einem breiten Boulevard, kreuzten im Schritttempo einige Bahngleise und rumpelten dann im Zickzackkurs durch allmählich leerer und dunkler werdende Gassen, deren Schlaglöcher dem Fahrer offensichtlich einzeln bekannt waren, so zielsicher steuerte er dazwischen hindurch. An einer Kreuzung gab er Lindsey eine Karte mit einer Telefonnummer für ein Funktaxi, ein sicheres Anzeichen dafür, dass es hier oben nicht ratsam war, einfach auf der Straße herumzulaufen und zu versuchen, ein Taxi anzuhalten. Die Gehsteige waren unbeleuchtet und völlig verlassen.
    Kurz darauf hielten sie vor einem Gebäude, das entfernte Ähnlichkeit mit einer Sportgaststätte aufwies.
Club Sunderland
stand in blauer Neonschrift auf der Frontseite zu lesen. Lindsey bezahlte, stieg aus und öffnete Giulietta die Tür. Sie lösten zwei Eintrittskarten zu je drei Pesos. Herren mussten das Doppelte bezahlen, wie Giulietta amüsiert feststellte. Dann gingen sie einen gekachelten Gang entlang. Sie reichten dem Kontrolleur ihre roten Tickets, der sie auf den allgegenwärtigen Dorn auf seinem Tisch spießte, gingen an einem speckigen Vorhang entlang und betraten schließlich den Ballsaal.
    Giulietta blieb unwillkürlich stehen. Das hier war also einer der traditionsreichsten

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