Drei Minuten mit der Wirklichkeit
ging, die in den Nebenraum führte. Sein Blick schweifte über die grün gestrichenen Wände, die ekelhaften Gummipflanzen in ihren blassblauen Übertöpfen am Fenster, die polizeipädagogischen Poster an den Wänden, die hier sicher eine ungeheure Wirkung entfalteten. Verbrechen lohnt nicht. Drogen, nein danke. Berufswunsch Polizist?
Die Sache war für ihn erledigt. Er musste sich jetzt vor allem um Giulietta kümmern. Giulietta! Das war jetzt das Wichtigste. Ihre Karriere. Diese Sache war vorbei. Bald würde sie das auch so sehen.
Er lenkte seinen Volvo aus der Tiefgarage des Bankhauses am Zoo und fädelte sich in den Verkehr ein. Dann nahm er sein Mobiltelefon und wählte Giuliettas Nummer, bekam jedoch nur den Anrufbeantworter. Dafür hatte Anita versucht, ihn anzurufen. Er drückte die Rückruftaste.
»Markus?«
»Ja. Ich bin auf dem Weg.«
»Ich sitze hier schon seit zwanzig Minuten. Wieso warst du nicht im Büro?«
»Ich war bei der Polizei. Ich bin in fünf Minuten da. Weißt du, wo Giulietta steckt?«
»Wo soll sie schon sein? In der Oper.«
»Aber es ist halb sechs, da ist sie längst fertig, und ihr Telefon ist abgeschaltet.«
»Dann will sie wohl ihre Ruhe. Ich erwarte dich. Bis gleich, ja?«
Er brauchte fast zwanzig Minuten durch den Feierabendverkehr bis ins Klinikum Steglitz. Als er in die Einfahrt einbiegen wollte, sprang Anita ihm fast vor die Kühlerhaube. Er bremste scharf.
»Das war knapp«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Was wollte die Polizei?«
»Erklärungen.«
Er gab ihr eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs. Anita ignorierte seine Frage, wie ihr Tag gewesen sei, und sagte:
»Du siehst ganz blass aus, Markus. Giulietta hat mir versprochen, heute Abend vorbeizukommen. Ich kann nicht glauben, dass sie keine Erklärung für das Verhalten dieses Mannes hat. Ich meine, sie war zwei Monate mit ihm zusammen. Aber bis dahin reden wir über etwas anderes, ja?«
Er starrte konzentriert durch die regennassen Scheiben. Erst am Mexikoplatz lichtete sich der Verkehr. Als sie wenige Minuten später den Kies der Hauseinfahrt unter den Reifen knirschen hörten, war es bereits stockdunkel. Anitas Golf stand in der Einfahrt. Im Haus brannte jedoch kein Licht.
»Sagtest du nicht, sie hätte dein Auto haben wollen?«, fragte er beim Aussteigen.
»Doch. Sie hat mich heute Morgen vor der Klinik abgesetzt. Wahrscheinlich ist sie oben. Schau, was ich hier habe. Entenbrust.« Sie hielt eine Einkaufstasche hoch. »Und Chardonnay. ’97er.«
Er lächelte sie an, ging auf sie zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss. »Vielleicht wollte dieser Verrückte mich deshalb aus dem Verkehr ziehen, weil ich zwei so großartige Frauen um mich habe. Das hat er einfach nicht ausgehalten.«
»Bestimmt. Schließt du jetzt bitte auf.«
Sie betraten das Wohnzimmer und schalteten das Licht an. Anita sah es zuerst und runzelte fragend die Stirn. Battin folgte ihrem Blick und betrachtete verblüfft das aufgeschlagene Ringbuch auf der Couch neben dem Kamin. Dann ging er darauf zu, nahm es in die Hand, warf es wieder hin und rief laut: »Giulietta?«
Anita setzte die Einkaufstüte auf dem Tisch ab und griff ihrerseits nach dem Aktenordner. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, was um ihn herum vorging. Mit drei Sätzen war er bei der Treppe, die in die obere Etage führte. Er lief in den ersten Stock und stürmte in Giuliettas Zimmer. Sie benutzte es nur noch als Ablage, als Lagerraum für Dinge, die sie nicht mehr brauchte, jedoch nicht wegwerfen wollte. In ein paar Sekunden hatte er alles gesehen, was er sehen musste. Auf dem abgezogenen Bett lag ein aufgeschlagenes Telefonbuch: Botschaften und Konsulate. Ihr gelber Schalenkoffer auf dem Schrank war verschwunden. Er fluchte leise, machte kehrt und rannte die Treppe wieder hinunter. Anita stand am Wohnzimmertisch und blätterte langsam den braunen Ringordner durch, der die gesammelten Dokumente der Familie enthielt: Geburtsurkunden, Zeugnisse und vor allem: die Reisepässe. Der von Giulietta fehlte.
Battin ließ sich auf die Couch fallen und nahm seinen Kopf zwischen die Hände.
Anita machte ein paar hilflose Bewegungen.
»Markus?«
Er antwortete nicht.
»Markus. Was geht hier vor?«
Er hob den Kopf und schaute sie an. Er hatte das Gefühl, sein Kopf müsse platzen. Erst jetzt sah er, dass Anita überhaupt nicht mehr in den Ringordner schaute, sondern auf einen Zettel, den sie wie ein totes Insekt zwischen den Fingern hielt.
»Wir müssen
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