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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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die Polizei alarmieren«, sagte er leise. »Die müssen sie aufhalten.«
    Anita starrte ihn an.
    Was war mit ihrem Gesicht geschehen? Sie war kreidebleich. Er erhob sich und ging auf sie zu, aber sie wich vor ihm zurück.
    »Markus, sag mir die Wahrheit«, sagte sie ruhig.
    »Anita …«
    »Was hast du ihr angetan?«
    »Seid ihr alle verrückt geworden?«, fragte er fassungslos.
    Jetzt hielt es ihn nicht mehr. Er ergriff Anita bei den Schultern, aber sie stieß ihn von sich.
    »Fass mich nicht an«, zischte sie.
    »Anita, mein Gott …«
    »Was ist zwischen euch gewesen?«, fragte sie drohend.
    Er trat ein paar Schritte zurück.
    »Wovon redest du überhaupt?«, stieß er wütend hervor.
    Er bekam Angst. Panische Angst. Seine Familie war verrückt geworden.
    »Davon«, sagte sie, musterte ihn feindselig und warf den Zettel vor ihm auf den Tisch.
    »Lies das! Und dann sag mir die Wahrheit.«
    Er hob den Zettel auf und las.
    Nein, es war überhaupt nichts vorbei. Die Worte flirrten vor seinen Augen wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm.
    Giulietta,
ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht.
Frag deinen Vater.
Er weiß alles. Verzeih mir und vergiss mich.
Für immer.
Damián

[home]
    1. Teil
Escualo
    So wie man Wasser findet, wenn man gräbt,
so findet der Mensch überall das Unbegreifliche,
bald früher, bald später.
     
    Georg Christoph Lichtenberg

1
    G iulietta versuchte, nicht zu zittern.
    Sie blickte nervös um sich und musterte verstohlen die Gesichter der anderen Fluggäste im Terminal B des Züricher Flughafens. Ihr Magen fühlte sich an, als habe sie Säure geschluckt. Ihr Herz klopfte, und wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass sie gestern Mittag in Berlin zumindest äußerlich kerngesund in das Zubringerflugzeug gestiegen war, so hätte sie auf Fieber getippt.
    Ihr Magen rumorte. Er wollte Nahrung, aber sie wusste, dass er sie nicht bei sich behalten würde. Es war ihr Tänzerinnenmagen. Sie hatte zehn Jahre lang Ballett studiert. Sie kannte ihren Körper und alle Schmerzen, deren er fähig war. Was sie indessen nicht kannte, war seine Fähigkeit, sich so sehr in einem einzigen Schmerz einzurichten. Es waren zweiundsiebzig Stunden vergangen, seit ihr Leben gegen diese unsichtbare Wand geknallt war, und noch immer litt sie an Brechreiz, Sodbrennen und Schüttelfrost. Und all dies vor allem, wenn sie an einen Namen dachte: Damián.
    Aber auch das lange Warten hatte sie zermürbt. Gestern Nachmittag war sie hier in der Hoffnung angekommen, noch am selben Abend über Warteliste einen Platz zu bekommen. Man hatte ihr versichert, wenn es am Freitag nicht klappen würde, käme sie garantiert am Samstag mit. Sie hatte ihre letzten Bargeldreserven für eine weitgehend schlaflose Nacht im Flughafenhotel ausgegeben. Jetzt besaß sie noch ein paar Schweizer Franken und eine Kreditkarte, die ihr nicht gehörte. Aber das war gleichgültig. Sie hatte einen Platz in der Samstagsmaschine nach Buenos Aires. Das allein zählte.
    Sie stand auf, ging zur Kaffeebar und verlangte eine Flasche stilles Wasser. Der Kellner musterte sie interessiert. Offenbar sah sie nicht ganz so schlecht aus, wie sie sich fühlte. Sie erwiderte seinen Blick nicht, schaute überhaupt niemandem ins Gesicht. Sie war daran gewöhnt, dass Männer sie anstarrten, und kümmerte sich nicht weiter darum. Aber sie hatte Furcht, erkannt zu werden. Das war natürlich albern. Wer sollte sie hier schon kennen? Und dennoch. Sie war auf der Flucht, auch wenn sie nicht recht wusste, wovor.
    Sie kehrte zu ihrem Platz zurück, schaute auf die Anzeigetafel, um das Signal zum Einsteigen im Blick zu haben, setzte die Wasserflasche an die Lippen und trank ein wenig. Der Gedanke an die vor ihr liegenden zwölf Stunden Flug erfüllte sie mit Unruhe, doch die größte Angst hatte sie davor, dass ihr Vater hier auftauchen würde. Es war natürlich völlig unwahrscheinlich. Nein, es war unmöglich. Er konnte nicht wissen, auf welchem europäischen Flughafen sie saß, um einen Anschlussflug nach Buenos Aires zu nehmen. Sie könnte überall sein, in London, Madrid oder Amsterdam. Er konnte nicht weg aus Berlin. Es war das Hauptstadtjahr. Er arbeitete seit Monaten täglich zwölf bis vierzehn Stunden, um dieses Sicherheitskonzept fertig zu stellen. Er konnte jetzt nicht ausfallen. Das ging nicht. Jedenfalls nicht gleich.
    Konnte man feststellen, wer wann wo welches Flugzeug nahm? Die Polizei vermochte das sicher. Aber dazu müsste man sie zur Fahndung ausschreiben. Und das

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