Drei Minuten mit der Wirklichkeit
durfte die Polizei wohl nur, wenn sie etwas verbrochen hätte. Aber sie hatte nichts verbrochen. Sie war ein erwachsener Mensch von neunzehn Jahren. Niemand hatte das Recht, sie polizeilich suchen zu lassen. Auch ihre Eltern nicht. Oder vielleicht doch?
Sie hielt nervös nach allem Ausschau, was irgendwie einer Uniform ähnelte. Aber niemand behelligte sie. Die Menschen um sie herum kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, blätterten gelangweilt in Zeitschriften oder vertrieben sich die Zeit mit Duty-free-Einkäufen. Hier und da tippte ein Geschäftsreisender auf seinem Laptop herum oder spielte mit seinem Mobiltelefon. Giulietta schloss die Augen und atmete tief und langsam. Das Wasser tat ihr gut. Sie würde schon ein wenig Ruhe finden, wenn sie nur erst in diesem Flugzeug säße. Jeder Kilometer, der sie mehr in Damiáns Nähe brachte, würde sie ruhiger werden lassen. Es gab nur dieses eine Ziel. Sie würde ihn finden, und alles würde sich klären. Es war undenkbar, dass es für sein Verhalten keine Erklärung gab. Und unabhängig von jeder Erklärung war ihre Liebe, die über alles erhaben war.
Ein vorübergehendes älteres Paar unterhielt sich auf Spanisch. Giulietta verstand die Sprache nicht, aber allein der Tonfall, der Singsang schob einen Eiskeil durch ihre Eingeweide. Vor allem die Stimme der Frau traf sie hart und heimtückisch. Sie sprach genauso wie Nieves, Damiáns Tanzpartnerin. In dem ganzen Durcheinander der letzten Tage nach der Vorstellung hatte Giulietta überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Nieves.
Schnee
. Ein solch schöner Name für die gehasste Frau. Ob sie noch in Berlin geblieben war? Gab es hier vielleicht einen Zusammenhang? Steckte sie hinter diesem Rätsel?
Vierzig Minuten bis zum Einstieg. Morgen früh um 11 Uhr Ortszeit würde sie in Buenos Aires landen. Sie hatte weder eine konkrete Vorstellung davon, wo das war, noch die leiseste Ahnung, was für ein Land sie betreten würde. Aber das war völlig gleichgültig. Sie wäre auch nach Tokio oder Dakar geflogen. Damián war in Buenos Aires. Alles andere war unwichtig.
Sie würde vom Flughafen in die Stadt fahren und den Taxifahrer bitten, sie in der Stadtmitte in der nächstbesten Tangobar abzusetzen. Dann würde sie alle dort auftauchenden Tanzgäste fragen, wo sie Damián finden könnte. Er war einer der bekanntesten Tänzer der Stadt. Er war ein Star. Mit Sicherheit wusste jemand, wo er wohnte. Im Ballett war das ja auch so. Jeder kannte jeden. Ballett war eine kleine Welt. Mit dem Tango wäre es nicht anders.
Dann würde sie seine Straße, sein Haus aufsuchen, die Treppe hinaufgehen bis vor seine Tür, sie würde klingeln, und er würde öffnen. Vielleicht würde er nicht öffnen. Vielleicht wäre er nicht da. Wer weiß? Möglicherweise hatte er eine Verabredung oder ein Probe irgendwo. Dann würde sie vor seiner Tür warten, oder eben auf der Treppe. Sie würde dort sitzen und sich nicht von der Stelle rühren, auf jedes Geräusch achten, das durch das Treppenhaus zu ihr hinauf käme. Sie würde sein Lieblingsparfüm aufgelegt haben, und der Duft würde ihr voraus- und ihm entgegeneilen. Noch bevor er sie sehen würde, wüsste er bereits, dass sie gekommen war, dass sie auf ihn wartete, dass sie um die halbe Welt gereist war, damit er sie in seine Arme nahm, ganz egal, was in Berlin geschehen war, denn was zuvor geschehen war, war so viel wichtiger, so viel einmaliger, so viel unerhörter, dass dieser seltsame Vorfall gar keinen wirklichen Einfluss darauf haben konnte.
Tränen schossen ihr in die Augen, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie durfte jetzt nicht daran denken, wie es wäre, ihn wieder zu sehen. Zwölf Stunden Flug. Dann möglicherweise ein ganzer Tag, bis sie ihn gefunden hatte. Und wenn sie ihn nicht fand? Er war nach Buenos Aires geflogen. Die Polizei hatte dies festgestellt. Aber war er auch dort geblieben? Er war vorgestern dort angekommen, am Donnerstagmorgen. Sie würde erst am Sonntag eintreffen. Drei Tage später. Nein, er wäre sicher noch in der Stadt. Er musste in der Stadt sein. Wo sollte er denn hingehen? Giulietta wusste, dass es Dutzende von Möglichkeiten gab. Aber was auch immer geschah, sie würde bleiben, bis sie ihn gefunden hätte.
Sie erhob sich und ging in den Toilettenraum. Sie schaute ihr Gesicht kaum an, als sie vor den Spiegel trat, wusch es nur mehrmals mit kaltem Wasser ab und ließ die Tropfen einfach herunterrollen. So sah man wenigstens nicht, dass sie noch
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