Drei Minuten mit der Wirklichkeit
immer weinte. Erst nach einigen weiteren Minuten war der Anfall plötzlich vorüber. Sie putzte sich die Nase, rieb sich das Gesicht trocken, noch immer bemüht, sich so wenig wie möglich zu betrachten. Denn alles, was sie dort sah, tat ihr weh. Weil er jeder Einzelheit ihres Gesichtes eine eigene Liebeserklärung gemacht hatte. Ihre unteren Augenlider hatten ihn fasziniert, weil sie waagrecht waren. Das sei sehr selten, hatte er gesagt.
Selbst ihr eigenes Gesicht erinnerte sie nur an ihn.
Sie schulterte ihre Reisetasche und begab sich auf einen Rundgang durch die Abfertigungshalle. Bilder der letzten zwei Tage schossen ihr durch den Kopf. Das Gespräch mit Frau Ballestieri, der Ballett-Direktorin der Staatsoper, am Donnerstagabend nach den Proben. Der eisige Blick, als Giulietta ihr Anliegen vorgetragen hatte. Eine Hospitantin, die um Urlaub bat? Nach so kurzer Zeit im Ensemble? Ausgerechnet jetzt, mitten in der Spielzeit? Wo gab es denn so etwas? Sie könnte sich ja gerne wieder abmelden. Es gäbe genügend Tänzerinnen, die von ihrer Stelle träumten. Giulietta hatte erst ein wenig gelogen, etwas von einer Verletzung gestammelt, aber die Frau hatte sofort gemerkt, dass ihre Geschichte nicht stimmte. Dann hatte sie die Wahrheit erzählt. Die Wahrheit? Giulietta wusste nicht, was sich in Wahrheit zwischen Damián und ihrem Vater abgespielt hatte. Und wie sollte sie dieser Frau erklären, was geschehen war? Sie versuchte es, bruchstückhaft. Die Frau hörte ihr zu und stellte ein paar Verständnisfragen, die Giulietta nicht beantworten konnte. Giulietta versuchte, ihr klarzumachen, dass es keine unglücklich verlaufene Liebesgeschichte war, die sie veranlasste, alles stehen und liegen zu lassen, sondern dass sie das Gefühl hatte, von ihren sämtlichen Sinnen betrogen zu werden. Ihre Welt war völlig aus dem Lot. Sie musste das Vertrauen in ihre Sinne zurückgewinnen dürfen. Entweder war die Welt verrückt geworden oder sie.
Frau Ballestieri hatte sie streng zurechtgewiesen. Ein Ballett-Ensemble sei wie ein Körper, den man nicht so einfach verlassen konnte. Ein Corps de Ballet. Was sie zu tun im Begriff sei, könnte ihre Karriere ruinieren, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wenn sich das herumspräche, würde niemand sie jemals wieder engagieren. Privatleben sei hier nicht zweit-, sondern drittrangig. Sie könne das nicht durchgehen lassen. Sie würde ihr damit auch gar keinen Gefallen tun. Sie könnte ihr nur so weit entgegenkommen, sie aus internen Gründen fristlos zu entlassen. Sie wäre ja noch in der Probezeit. Das käme schon vor und stellte sie nicht bloß. Die Stelle würde umgehend neu besetzt. Mehr könne sie nicht tun.
Giulietta hatte finster vor sich hin geblickt. Das war das Ende. Sie hatte ihr Äußerstes gegeben, um diese Stelle zu bekommen. Es war der erste, der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Erfüllung ihres Traums, Ensemblemitglied eines angesehenen Hauses zu werden. Der Gedanke daran, die entfernteste Hoffnung darauf, hatte sie am Leben gehalten, die ganzen Jahre der Ausbildung hindurch, und ihr geholfen, alles durchzustehen: die Schmerzen, die unaufhörliche Kritik, die blutenden Füße, die gesplitterten Zehennägel und nicht zuletzt den ewigen Kampf mit ihrer Mutter, die regelmäßig wiederkehrenden Diskussionen über den Sinn oder Unsinn einer solchen Ausbildung. Und dann war der Traum zum Teil wahr geworden: Sie hatte die Hospitantenstelle an der Staatsoper bekommen. Wie konnte sie diese einmalige Chance jetzt so leichtfertig aufs Spiel setzen?
Der Preis der Entscheidung, Damián hinterherzufahren, war höher als alles, was sie sich hätte vorstellen können. Doch sie hatte keine Wahl. Wie in Trance hatte sie nur mit dem Kopf genickt und sich bei der Ballett-Direktorin für das Entgegenkommen bedankt. Dann versuchte sie aufzustehen und das Zimmer zu verlassen, doch ein kurzer Schwindelanfall zwang sie auf den Sessel zurück. Die Direktorin befahl ihr sitzen zu bleiben und holte ihr ein Glas Wasser. Giulietta trank, und Frau Ballestieri lehnte sich zurück und betrachtete sie schweigend. Ihre abschließenden Worte klangen jetzt noch in ihr nach.
»Giulietta, Sie tragen etwas in Ihrer Seele, das man Ihrem Tanz noch nicht anmerkt. Das ist schade, aber es wird kommen, und ich würde einiges darum geben, dabei zu sein. Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns. Das müssen Sie mir versprechen. Ich gebe Ihnen eine Woche. Wenn Sie am sechsten Dezember wieder zum Morgentraining
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