Drei Minuten mit der Wirklichkeit
habe. Loess, sagten Sie? Mit Doppel-ss.«
»Ja.«
»Loess, Konrad?«
»Ja, bitte.«
Es knackte in der Leitung. Dann erklang die Computerstimme mit der Nummer. Es war unglaublich, aber wahr.
Offenbar hatte sie dort Familie.
11
M anchmal blieb sie länger und tanzte
Escualo
.
Sie wartete, bis die anderen gegangen waren, kehrte dann in den Trainingssaal zurück, legte das Stück auf und ließ sich in die Musik hineinfallen. Den ganzen Tag lang musste sie sich zurückhalten, den stilisierten Ballett-Bewegungen folgen, die so wenig mit dieser Musik zu tun hatten. Der Zorn, die Wut, die unterschwellige Gewalt war mit Händen greifbar, und sie sollte sich mit Arabesken und Glissades dazwischen hindurchschlängeln?
Sie mochte das Ballett nicht. Im Grunde hatte es keinen Sinn, Ballett und Tango verbinden zu wollen. Jedenfalls nicht so. Luft und Erde. Der Gegensatz war zu groß. Beckmann hatte diese Musik falsch auf die Bühne gebracht. Sie musste an einen Satz von Lindsey denken, während sie, die Augen geschlossen, im Probensaal stand und den ersten Takten von
Escualo
lauschte: »Der Tango hat sich dreißig Jahre lang gegen Piazzolla gewehrt. Das Volk wollte ihn nicht. Er wurde sogar auf der Straße angespuckt. Und Piazzolla hat das Volk aus dem Tango verbannt: den Sänger und den Tänzer.«
Wie alle Beobachtungen Lindseys war auch diese verworren. Aber ein Teil davon war richtig. Was Piazzollas Musik mit dem Ballett gemeinsam hatte, war die Verbannung des Volkes, die Entfernung vom Ursprung, die riesige Distanz von der volkstümlichen Kultur, wo beide einmal ihren Ausgang genommen hatten. Beides war elitär, doch an völlig entgegengesetzten Polen. Wie sollte man da eine Brücke schlagen?
Ob Damián das auch gespürt hatte? Sie tanzte seine Schritte. Juliáns Schritte. Die Solosequenzen aus dem Pas de deux, den er mit Lutz einstudiert hatte. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die Szene klar vor sich. Mit diesen Bewegungen hatte er sie damals verhext. Sie wusste jetzt, warum. Weil es jener andere Pol war, die Gegenwelt zum Ballett auf gleichem Niveau. Jetzt richtete sie sich darin ein. Sie wollte Damián spüren, ohne diese Schmerzen, ohne diese Taubheit. Sie erinnerte sich an seine Worte während jener Nacht nach dem Schwanensee. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, der Boden sei ein Magnet und ihre Füße aus Eisen. Sie hielt ihre Knie und Oberschenkel geschlossen. Ihr Oberkörper war aufrecht und ruhig, ihre Brüste stolz betont. Dann begann sie, die ersten Bewegungen nachzuvollziehen, den schleichenden Gang, das katzenartige Gehen. Sie verbrachte Stunden mit diesem Stück. Sie improvisierte Übergänge zwischen Damiáns Solopartien, was es ihr gestattete, das ganze Stück allein zu tanzen. Sie arbeitete sich in Trance und führte einen stummen Dialog mit ihm. Zuweilen half ihr das. Sie fühlte sich ihm nah.
Dann gab es Tage, da sie es vor Niedergeschlagenheit keine Minute länger im Opernhaus aushielt, nach den Proben nach Hause eilte und sich im Bett vergrub. Sie war so verzweifelt, dass sie sogar eines der Videobänder auflegte. Vielleicht könnte sie ihn auf diese Weise vergessen. Sie schaute sich
Escualo
auf dem Band an, das Lutz für sie kopiert und nach Argentinien geschickt hatte. Aber sie ertrug den Anblick nicht lange. Sie saß auf dem Boden vor dem Fernsehgerät und weinte hemmungslos. Sie musste damit fertig werden. Warum hatte er sie so gemein behandelt? Warum war er ohne ein Wort gegangen? Nach solch einer Nacht? Weil er ein armer, verstörter Mensch war! Sie zwang sich, hinzuschauen. Dann riss sie sich zusammen und schob eine der anderen Kassetten in das Gerät.
I-1995 las sie auf dem Schuber, während die ersten Bilder über die Mattscheibe huschten. Eine seiner ersten Arbeiten mit Nieves. Lindsey hatte einen Zettel dazugelegt und darauf die Auftrittstermine und -örtlichkeiten vermerkt.
Salon Canning
. Es war eine verwackelte Amateuraufnahme, vermutlich von irgendjemandem aus dem Publikum aufgenommen. Bei manchen Kameraschwenks sah man die dichten Reihen der Zuschauer, die um die Tanzfläche herumstanden. Es war eine ähnliche Atmosphäre, wie sie sie im Almagro erlebt hatte, als Hector und Blanca aufgetreten waren. Es war keine Show, sondern eine Einlage während eines ganz normalen Tanzabends. Nieves und Damián stellten sich als Paar vor.
Aber was für eine Choreografie!
Sie starrte gebannt auf die verwirrende Vielzahl von Figuren, die Damián und Nieves in einem atemberaubenden
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