Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Normalzeit kaum sichtbaren, raffinierten Bewegungsablauf in seine Bestandteile zerlegt hatte. Es war eine Acht, gefolgt von einer Eindrehung. Es war offensichtlich, dass der Schritt hier nicht hergehörte. Nieves war nicht darauf vorbereitet, und daher hatte Damián sie per Blickkontakt gewarnt. Acht und Eindrehung. Sie nahm Lindseys Liste zur Hand und schaute die spanischen Entsprechungen nach.
Ocho
und
Enrosque
.
Sie ließ das Blatt fallen, als sei es plötzlich heiß geworden.
Lapiz
.
Ocho
.
Enrosque
. Das konnte nicht sein. Sie griff nach dem Schuber, warf ihn dann sogleich wieder weg. Die Jahreszahl! Das war unmöglich. 1995? Vor fünf Jahren. Wie sollte das …? Ihre Kopfhaut zog sich zusammen. Erst im zweiten Anlauf begriff sie das eigentlich Ungeheuerliche daran. Das Band lief noch immer. Die letzten Sekunden dieses Tanzes flimmerten auf dem Bildschirm vor ihr. Sie wusste, dass Damián Nieves noch einmal anschauen würde, am Ende, vor der Trennung. Und so geschah es. Der letzte Takt erklang. Nieves verharrte vor ihm im Kreuz, in der fünften Position. Er schaute ihr einmal kurz in die Augen, drehte sie zur Seite weg und entließ sie, während er sich gleichfalls abwandte.
Lapiz
.
Ocho
.
Enrosque
. L … O … E … und schließlich die Trennung.
Separados
.
Loess.
Die Entdeckung traf sie jetzt mit voller Wucht. Woher kannte er diesen Namen? 1995. Vier Jahre, bevor sie sich begegnet waren. Und dieser Name … niemand kannte ihn. Außer ihr selbst und ihrer Mutter. Woher hatte Damián …? Ein dumpfer Schmerz begann in ihrem Kopf zu hämmern. Sie schaltete das Fernsehgerät aus. Ein kleiner weißer Punkt blieb auf der dunkelgrünen Mattscheibe zurück, ein winziges Lichtloch in ihrem aschfahlen Gesicht, das sich dort spiegelte.
12
G iulietta? Mein Gott, weißt du, wie viel Uhr es ist?«
»Ich brauche deine Hilfe. Lutz, ich flehe dich an.«
Ihre Stimme überschlug sich. Sie hatte es zwölfmal klingeln lassen, bis er endlich abnahm.
»Hat das bis morgen Zeit?«
»Ja. Morgen früh. Ich muss nach Rostock fahren, und du musst mich begleiten.«
»Nach Rostock? Wieso? Was soll ich in Rostock?«
»Es hängt … mit Damián zusammen.«
Damián. Sie wusste, dass er ihr helfen würde, und sei es nur, um zu erfahren, was in Buenos Aires geschehen war. Er hatte sie seit ihrer Rückkehr mehrfach angerufen, aber sie war nicht in der Lage gewesen, ihm alles zu erzählen. In ein paar Wochen, hatte sie gesagt, wenn sich das alles etwas gesetzt hat.
»Lutz, ich kann dort nicht allein hinfahren. Ich brauche einen Begleiter. Einen Mann. Ich erkläre es dir morgen, ja?«
Am nächsten Tag saß er verschlafen neben ihr im Auto, während sie über die A 19 Richtung Norden fuhren. Es war Mittwoch. Vor der Abfahrt hatte sie in der Oper angerufen und sich für einen Tag krankgemeldet. Ein Tag. Das musste zu verschmerzen sein. Sie dachte an das Gespräch mit Viviane Dubry. Wenn sie nachkontrollierte, bei ihr zu Hause anrief …? Eine Magenverstimmung. Sie hatte den Tag bei ihren Eltern in Zehlendorf verbracht. Das würde schon durchgehen.
Lutz war bereits auf dem Berliner Ring eingenickt. Hinter dem Plauer See begann Nieselregen. Giulietta starrte durch die Scheibe auf die schwarz glänzende Fahrbahn. Die Straße war nagelneu. Links und rechts erstreckte sich Heidelandschaft, die allmählich durch dunkelbraune Felder abgelöst wurde. Riesige Flächen, nur am Horizont von dünnen Baumgruppen begrenzt und hier und da ein paar Häuser und Höfe. Die Gegend war ihr ein wenig unheimlich. Sie schaute Lutz an, sein schlafendes Gesicht. Mit seinem Stoppelhaarschnitt und der Lederjacke sah er fast gefährlich aus. Doch vor allem beruhigte sie seine ein Meter neunzig hohe athletische Figur. Er sollte nur im Hintergrund bleiben, wenn sie sich durchfragte. Konrad Loess. In Albertshagen. Ein Verwandter ihres Vaters. Vielleicht ein Bruder. Wie würde er reagieren? Was war das für ein Mensch?
In ihrem Kopf gingen immer die gleichen Gedanken hin und her. War das alles Einbildung und Zufall, oder wusste Damián schon von der Existenz ihres Vaters, noch bevor sie sich begegnet waren? Doch wie sollte das möglich sein? Woher sollte er den Namen Loess gekannt haben? Als ihr Vater so hieß, war Damián noch gar nicht geboren. Ihr Vater lebte damals in der DDR , saß sogar im Gefängnis, weil er Probleme mit dem Regime hatte. Wie sollte es hier eine Verbindung geben?
Ihren Vater zu fragen, war ausgeschlossen. Aber sie würde es
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