Drei Minuten mit der Wirklichkeit
dritten Tag kam es zu einem Eklat. Marina schrie ihn an und verließ wutschnaubend den Probenraum. Heert warf seinen Notizblock in die Ecke und folgte ihr.
Zwanzig Minuten später kam er allein zurück. Giulietta schwante Übles.
»Zweite Besetzung für
Libertango
und
Novitango
«, brüllte er. »Soloprobe. Erst Nadia. Dann Giulietta. Los. Aufstellung.«
Die Ankündigung wirkte wie eine elektrisches Gewitter. Giulietta als Solistin in der zweiten Besetzung! Sie spürte die Blicke von allen Seiten. Was war das schon, versuchte sie sich einzureden. Ersatzrolle in der zweiten? Sie würde ohnehin nie eingesetzt, es sei denn, es gäbe eine Grippewelle, von der sie dann ausgerechnet verschont bliebe. Aber es war ein Zeichen. Maggie Cowler verließ demonstrativ den Saal. Giulietta erfuhr zwei Tage später vom Physiotherapeuten, dass sie direkt zu Viviane gelaufen war und was sie ihr noch im Flur zugerufen hatte: »He’s just obsessed with her.«
Theresa starrte entgeistert Heert an. Giulietta fühlte sich, als führe man sie nackt auf einen Marktplatz. Als sie Nadia tanzen sah, begriff sie außerdem, dass die ganze Sache ein abgekartetes Spiel war. Heert ließ Nadia einfach durchtanzen und korrigierte sie kaum. Es gehörte nicht viel dazu, zu erraten, worum es an diesem Nachmittag ging: Marina auszuhebeln und einen Weg zu finden, Giulietta in die Solorolle zu drücken. Sie wusste überhaupt nicht, wohin sie noch schauen sollte. Theresa warf ihr einen schwer deutbaren Blick zu. Wusste sie etwas von Heerts Plänen? Natürlich wusste sie das. Sie war über alles informiert, was hinter den Kulissen lief. Das Ensemble selbst war ein blankliegender Nerv, der alles registrierte, sogar Dinge, die gar nicht da waren, sondern nur in den Köpfen spukten.
Sie wollte diese Rolle nicht. Nicht das Solo und schon gar nicht diese exponierte Stellung. Sie fühlte sich leer, einsam, schwach. Sie hatte keine Kraft für Gemeinheiten, denen sie unweigerlich ausgesetzt wäre, wenn sie so kometenhaft nach oben schoss. Ihre Haut war aus Papier. Die leiseste Berührung, und sie würde reißen. Was sie allein zusammenhielt, war der Tanz. Die Ordnung. Die Disziplin. Die völlige Hingabe an diese vorgegebenen Bewegungen. Sie hatte keine eigenen. Kein Ziel. Kein Begehren. Und wie konnte es sein, dass sie in ebendieser Verfassung plötzlich etwas zu sagen, etwas zu zeigen haben sollte? Was sah Heert in ihrem Stil? Sie fühlte sich so leer, so ausdruckslos. Doch sie spürte, dass ihre Art,
Libertango
zu tanzen, eine besondere Stimmung im Probensaal entstehen ließ. Sie sah es in den Gesichtern der Tänzer, wenn sie auf sie zuging und vor ihnen Aufstellung nahm. Sie dachte an Hector, wenn sie die ersten Takte hörte. Welch ein Abgrund zwischen der drückenden, hitzigen Atmosphäre, welche diese Musik in ihrer Erinnerung heraufbeschwor, und dem fast filigranen Bewegungsgeflecht, dem sie hier folgen sollte! Sie konnte nicht anders. Die Choreografie war falsch. Die weit ausholende Bewegung mit abgespreiztem Bein zu einem schrillen Bandoneonlauf glich dem Versuch, mit einer Feder zu trommeln. Sie konnte gar nicht anders, als die Luftigkeit herauszunehmen und die Extrovertiertheit der Bewegungen zu dämpfen. Es gab keinen Jubel in ihren Gesten. Wie auch! Woher denn! Aus dieser Musik etwa? Dieses Tango-Stück war zutiefst ambivalent, ein eisiges Feuer. Marina hatte es auf einer Ebene der Leidenschaftlichkeit versucht. Nadia spielte die Unterkühlte, Kontrollierte. Aber beides war unvollständig.
Giulietta war wie in Trance, als sie die Schlusspassage erreicht hatte, jenen eigenartigen, gespreizt schreitenden Gang, vorbei an den Männern, an allen Männern. Sie hatte das Gefühl, in
Libertango
das ganze Spektrum dieses Tanzes durchmessen zu haben, die Melancholie der Einsamen, Verlassenen, gepanzert mit dem lässigen, verächtlichen Lächeln einer Hure.
Als sie fertig war, herrschte einige Sekunden Stille. Dann hörte man von der Eingangstür her Händeklatschen.
Marina Francis applaudierte.
7
D r. P. Jahn und Partner. Rechtsanwälte. Fasanenstraße 37.
Sie war schon mehrmals an dem Haus vorbeigegangen, ohne den Mut aufzubringen, hineinzugehen. Wonach sollte sie fragen? Nach ihm? Nach seinem Anliegen? Mit welchem Recht? Man würde sie abweisen. Verständlicherweise.
Sie stieg die breite Treppe zum dritten Stock empor und musterte das Türschild, bevor sie klingelte: Dr. P. Jahn, Dr. K.-H. Neumann, N. Kannenberg. Rechtsanwälte.
Eine Frau
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