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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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mittlerweile für die nach Berlin umziehende Regierung. Weil er so gut systematisch denken konnte. Geheimnisträger. Keine schlechte Karriere für einen von drüben. Sie hatte nie etwas von seiner beruflichen Situation gespürt. Sicherheitsdienste waren eine Welt für sich. Er erzählte nichts darüber. Giuliettas Welt war seine wahre Leidenschaft. Behauptete er jedenfalls. Ballett. Musik. Hohe Gefühle. Ein Ausgleich für die Berufswelt, in der er sich bewegte. Wer die An- und Abfahrtswege der Kanzlerlimousine kannte, war nicht irgendwer. So jemand stand unter besonderer Kontrolle. Kontrolle. Die eigentliche Leidenschaft ihres Vaters. Alles und jeden steuern.
    Sie fand nichts, das über sein früheres Leben Aufschluss gab. Markus Loess. Sie überlegte kurz, wie sie mit diesem Namen klar käme. Giulietta Loess. Warum er sich wohl Battin genannt hatte?
    Sie fragte ihre Mutter, als sie den Stadtring entlangfuhren. Das ICC lag vor ihnen wie ein gestrandetes Raumschiff.
    »Ich glaube, das hängt irgendwie mit seinen Vorfahren zusammen.«
    »Wo wurde er eigentlich geboren?«
    »In einem kleinen Dorf in der Nähe von Rostock.«
    »Weißt du, wie es heißt?«
    »Irgendwas mit -hagen oder so.«
    »Bei Rostock sagst du?«
    »Ja. Schau doch im Atlas nach. Vielleicht fällt es mir wieder ein, wenn ich den Namen höre.«
    Anita knipste das Licht an und deutete auf die Ablage unter dem Armaturenbrett.
    Giulietta zog den Autoatlas hervor und suchte Rostock im Index. Als sie es auf der Karte lokalisiert hatte, sah sie, dass östlich davon tatsächlich fast alle Dörfer auf -hagen endeten. Sie begann zu lesen: »Volkenshagen, Cordshagen, Billenhagen, Willershagen, …«
    Sie las noch fast ein Dutzend weitere Namen vor, bis Anita plötzlich ›stopp‹ sagte. »Das ist es. Albertshagen.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja. Ich hatte mal einen Jugendfreund, der Albert hieß.«
    Giulietta schaute den winzigen Flecken auf der Karte an. Noch kleinere Dörfer gab es nicht.
    »Bist du schon mal dort gewesen?«, fragte Giulietta.
    »Nein. Wieso?«
    »Na ja, so halt. Ist Papa dort nie hingefahren? Nach der Wende, meine ich.«
    »Du weißt doch, wie er diese DDR gehasst hat. Warum sollte er dort hinfahren?«
    »Und du? Hat es dich nie interessiert, zu sehen, wo er aufgewachsen ist?«
    Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Er will darüber nicht sprechen. Also frage ich ihn auch nicht danach.«
    »Und … findest du das normal?«
    »Was meinst du mit normal?«
    Giulietta warf den Atlas ins Handschuhfach zurück. »Mama! Kannst du mir nicht ein einziges Mal eine klare Antwort geben?«
    »Bitte keine Theaterallüren, ja?«
    »Verdammt noch mal. Was ist bloß mit dir los? Was habe ich dir denn getan?«
    Ihre Mutter fuhr rechts heran und kuppelte aus. »Das will ich dir gerne sagen, meine Liebe. Seit zehn Jahren dreht sich in unserer Familie alles um dich. Giulietta hinten, Giulietta vorne. Ballett, Ballett, Ballett. Du und dein Vater. Und kaum ist eure Symbiose gestört, kommst du zu mir gerannt. Ach ja, da ist ja auch noch Mama …«
    »Du hast mir nur immer alles verboten.«
    »Ich habe dir überhaupt nichts verboten. Ich habe an deinen Verstand appelliert.«
    »Du verstehst überhaupt nichts von mir.«
    »Dann frage mich gefälligst nicht nach Erklärungen.«
    Ihre Mutter schaute sie kühl an. Woher kam diese scharfe Reaktion?
    »Warum sprichst du so mit mir?«
    Jetzt machte sie den Motor aus und drehte sich vollständig zu ihr herum.
    »Weil du große Schwierigkeiten hast, zu erkennen, dass du nicht das Zentrum der Welt bist. Und diese absurde Behauptung über Papa. Was bildest du dir eigentlich ein? Weißt du, welche Ängste wir ausgestanden haben wegen dieser Argentiniensache? Es ist sehr traurig, was in Buenos Aires geschehen ist. Dieser junge Mann tut mir Leid. Aber er hat offenbar deine Sinne verwirrt. Ich kenne dich überhaupt nicht wieder.«
    Sie wusste nicht, was sie entgegnen sollte.

10
    S ie saß bis drei Uhr morgens auf ihrer Couch. Regen schlug gegen die Scheiben. Die Berliner Variante. Horizontalregen. Von vier Teelichten brannten noch drei. Vor ihr auf dem Tisch lagen unberührt die Videokassetten, die Lindsey geschickt hatte. Und Lindseys Brief, den sie erneut gelesen hatte.
    Erstaunlich, wie einfach manche Dinge waren, wenn man sie kurzerhand tat. Die Auskunft brauchte keine Minute, um den Namen zu finden.
    »Albertshagen. Kreis Werta?«
    »In der Nähe von Rostock«, erwiderte sie.
    »Das ist die einzige Eintragung, die ich

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