Drei Minuten mit der Wirklichkeit
herausfinden. Er verbarg ihr etwas. Sein ganzes Verhalten nach dem Vorfall im November war nicht normal gewesen. Warum war er nach Buenos Aires gekommen? Was hatte Damián mit ihm zu schaffen gehabt? Was steckte wirklich hinter dieser Entführung?
Frag deinen Vater. Er weiß alles.
Aber er sagte nichts.
Sein Kontakt mit den Alsinas. Kannte er diese Familie vielleicht aus irgendeinem Grunde von früher? Warum hatte Damián ihr keinerlei Antwort geben wollen? Warum schwieg er bis zum Schluss? Er musste doch gewusst haben, warum er in Berlin so extrem reagiert hatte? Und der Briefumschlag. Anwälte in Berlin.
Das ergab alles keinen Sinn. Sie musste diese Familie Loess finden. Wer, um alles in der Welt, war ihr Vater wirklich?
»Gut geschlafen?«
Lutz rekelte sich. »Hmm. Wo sind wir denn?«
»Noch vierzig Kilometer.«
Er versuchte, die Beine auszustrecken. »Wo fahren wir eigentlich hin?«
»In ein Dorf außerhalb von Rostock.«
Er warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Findest du nicht, dass du mir wenigstens erklären könntest, was ich hier soll?«
Sie lächelte ihn an. »Mich beschützen.«
»Vor den braunen Horden?«
Sie runzelte die Stirn. »Quatsch. Du redest schon wie mein Vater.«
Er rieb sich die Augen und musterte die Umgebung. Dann atmete er hörbar aus und sagte: »Ist doch wahr. Kaum ist der rote Deckel weg, kommt braune Soße raus.«
»Übertreibe nicht. Das machen die, um Aufmerksamkeit zu erregen«, erwiderte sie.
Sie setzte den Blinker und steuerte auf eine Raststättenausfahrt zu.
»Willst du ein bisschen fahren?«, sagte sie. »Ich erkläre dir den Weg, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie aus und verschwand in Richtung Toiletten. Als sie zurückkehrte, wechselten sie die Plätze. Giulietta vertiefte sich in die Karte.
Pinnow. Kobrow. Goritz. Zarnewanz. Gnewitz. Wo diese Namen bloß herstammten? Das Bild in den Dörfern, die sie passierten, war stets das gleiche: neue Autos und alte, verfallene Häuser. Die Gegend schien menschenleer. Albertshagen lag laut Karte zwischen Reckhorst und Wandorf. Sie fuhren die Strecke dreimal hin und her und bogen schließlich in die einzig existierende unbeschilderte Abzweigung ein. Zwei Kilometer weiter passierten sie den Ortseingang Albertshagen.
Mehr als zehn Häuser waren es nicht. Ein geschlossener Gasthof. Ein kleiner Lebensmittelladen. Immerhin eine dieser modernen, violett-grauen Telefonzellen, die wie ein Fremdkörper am Straßenrand stand.
Sie bat ihn anzuhalten, stieg aus, ging in die Telefonzelle und suchte im Telefonbuch die Adresse heraus. Es war nicht schwierig. Es war die gleiche Telefonnummer, die sie auch von der Auskunft bekommen hatte. Sie stieg wieder ins Auto ein und reichte Lutz einen Zettel.
»Das ist die Adresse. Könntest du in dem Laden nachfragen, wo das ist?«
Lutz nahm die Notiz und stieg aus. Sein Anblick hatte wirklich etwas Beruhigendes für sie. Sie schaute ihm hinterher, wie er die Tür zu dem Lebensmittelgeschäft aufstieß. Eine Minute später war er wieder da. »Es ist gleich da vorne. Die erste Straße links, und dann zweihundert Meter. Ein Bauernhof.«
Er startete den Motor. Zwei Minuten später standen sie vor dem Anwesen. Hier war ihr Vater aufgewachsen? In diesem vergessenen Winkel? Giulietta spürte Beklemmung. Wie sollte sie jetzt vorgehen? Einfach an die Tür klopfen? Hier wohnte Konrad Loess. Sie schaute in den grauen Himmel, betrachtete kurz das vom Nieselregen gekräuselte Wasser in den zahlreichen Pfützen, welche die Auffahrt zum Hauptgebäude des Hofes säumten. Sie konnten hier nicht stehen bleiben, das war klar. Ein Auto mit Berliner Kennzeichen in diesem vergessenen Flecken würde sofort Aufmerksamkeit erregen. Im Erdgeschoss des Hauses brannte Licht. Ein Vorhang bewegte sich. Man hatte sie bemerkt. Lutz schaute sie neugierig an.
»Und jetzt?«
Giulietta atmete durch. »Warte bitte hier, ja. Ich komme gleich wieder.«
Er kuppelte aus, schaltete den Motor ab und zog die Handbremse an.
»Irgendwelche Zeichen?«, fragte er scherzhaft. »Weißer Rauch, flackerndes Licht, oder soll ich in zehn Minuten die Polizei rufen?«
»Nein.« Sie ergriff seinen Arm und versuchte zu lächeln. Aber sie war zu nervös. »Ich komme gleich zurück. Danke Lutz, wirklich. Du hilfst mir sehr.«
Sie stieg aus und ging die Auffahrt hinauf. Bevor sie die Haustür erreicht hatte, ging diese plötzlich auf, und eine riesige Dogge kam mit angelegten Ohren auf sie zugelaufen. Giulietta gefror in der
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