Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Tempo herunterspulten. Dann betrachtete sie ihn, sein Gesicht, die Präzision seiner Bewegungen. Allmählich gelang es ihr, ihre Gefühle etwas zu kontrollieren und nicht den Tänzer, sondern den Tanz zu betrachten. Es sah fast so aus, als tanze er nicht mit Nieves, sondern als sei da noch etwas Drittes, etwas Unsichtbares, Bedrohliches, etwas zutiefst Hassenswertes. Damián verfolgte Nieves, schnitt unablässig kontrapunktische Brechungen durch ihre Bewegungen, aber es schien ihm gar nicht um sie zu gehen. Er wirkte verbissen, wie besessen von einem Gedanken, einer unheilvollen Energie, die keinen Ausgang fand. Das Ende war noch seltsamer. Anstatt in einer gemeinsamen Pose zu verharren, liefen die beiden nach entgegengesetzten Seiten auseinander.
Sie spulte zurück und betrachtete das Stück erneut. Ob er damals auch schon Wörter getanzt hatte? Sie nahm Lindseys Blätter zur Hand und betrachtete die Liste mit den Figurennamen. Dann stellte sie das Videogerät auf Zeitlupe. Sie schluckte, als die Kamera Damiáns Gesicht abtastete, wie er ernst über Nieves Schulter hinweg zu Boden blickte und dann mit der ersten Bewegung einen seltsamen Schritt folgen ließ.
Lapiz
, notierte Giulietta.
Sie musste nach ungewöhnlichen Figuren suchen. Das war sein ursprünglicher Code gewesen. Die ersten Buchstaben der Figuren. Weder die Eröffnung noch der Schluss waren normal, das wusste sie jetzt schon. Man beendete einen Tango nicht getrennt. Lindsey hatte das einmal erwähnt und dabei den Begriff genannt. Man endete nie
separados
. Unten auf ihr Blatt schrieb sie:
separados
. Falls es in Damiáns erstem Tango ein Wort gab, so begann es mit L und endete mit S. Und dazwischen?
Sie schaute sich das Stück zweimal an. Beim zweiten Mal konzentrierte sie sich auf Nieves, auf ihre Reaktionen. Aber das ergab keinen Anhaltspunkt. Ihr Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Sie spulte zurück und betrachtete die Sequenz ein drittes Mal. Sie fragte sich, wie er überhaupt auf den Gedanken gekommen sein mochte, die Figuren nach einem Buchstabenmuster zu ordnen. 1995. Da war er gerade einmal neunzehn gewesen. Sie wusste mittlerweile genug über diesen Tanz, um ermessen zu können, in welch atemberaubender Geschwindigkeit Damián sich dieses Niveau erarbeitet hatte. Er musste wie ein Besessener trainiert haben, methodisch, strukturiert. Um den Überblick über die ganzen Figuren und Variationen nicht zu verlieren, musste er früh begonnen haben, sie aufzuschreiben. Tango und Mathematik. Das entsprach seinem Wesen. Vielleicht hatte er zunächst nur mit der Möglichkeit gespielt, die Zeichen für den Tanz mit Zeichen aus seinem Leben zu überblenden. Oder war der Prozess unbewusst verlaufen? Waren ihm die Figurenverkettungen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er ein Wort denken und unvermittelt eine mögliche tänzerische Entsprechung dabei sehen konnte? War so etwas denkbar?
Plötzlich nahm eine Gebärde ihre Aufmerksamkeit gefangen. Warum fiel ihr das jetzt erst auf? Sie spulte zurück und begann noch einmal von vorne. Die beiden nahmen Aufstellung. Und dann geschah es zum ersten Mal. Damián hob leicht den Kopf und schaute Nieves kurz in die Augen. Unmittelbar darauf tanzte er einen
lapiz
und fiel in eine rückwärts gerichtete Eröffnung. Dann folgten die unglaublichsten Variationen ohne einen einzigen Blickkontakt. Bis zu einer bestimmten Stelle. All diese Drehungen, Haken und komplizierten Tempiwechsel tanzten sie sozusagen blind, ohne sich ein einziges Mal anzuschauen. Aber dann kam es erneut zu einem flüchtigen Augenkontakt. Es schien, als müsste Damián diesen warnenden Blick an Nieves richten, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht missverstand. Doch warum an dieser Stelle? Was geschah hier? Sie spulte noch einmal zurück und ließ die Passage langsam durchlaufen, Bild für Bild. Sie vollzogen eine Drehung. Nieves’ rechtes Bein flog, von Damiáns linkem Oberschenkel weggeschoben, nach hinten und kam dort zur Ruhe. Sie stand, er machte Anstalten, den rechten Fuß gegen ihren linken zu setzen, und hierbei geschah es. Er hob den Kopf und fixierte sie, kurz, aber eindringlich. Sie suchte gleichfalls seine Augen, und in der Zeitlupe erkannte Giulietta jetzt auch, dass Nieves ihr Gewicht auf ihr rechtes Bein nach hinten verlagern wollte. Damiáns Blick stoppte dies. Und sogleich sah sie auch, warum. Er tanzte eine schwierige Verzierung. Sie musste die Stelle mehrmals in Zeitlupe durchlaufen lassen, bis sie den eleganten, in
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