Drei Minuten mit der Wirklichkeit
seiner zwielichtigen Geschäfte mit den Massenmördern in Uniform sorgfältig zu verwischen. Seine Karriere ging auch später steil nach oben, sowohl unter der Regierung Alfonsín als auch unter Menem. Die einzige Spur, die er nicht verwischen kann, ist Damián.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie verzagt.
»Die Verbrechen der Militärdiktatur sind per Präsidentendekret heute alle verjährt. Die Opfer des staatlichen Terrors haben seit Menems Generalamnestie keinerlei juristische Handhabe mehr gegen ihre Folterer oder die Mörder ihrer Angehörigen. Das einzige Verbrechen, das man bei dieser Amnestie damals vergaß, war Kindesraub. Haydée wollte Damián dazu bringen, seine wahre Identität offiziell feststellen zu lassen. 1992 ist in Buenos Aires auf Druck der Menschenrechtsgruppen ein Amt für solche Fälle eingerichtet worden, eine Stelle mit dem absurd klingenden Namen ›Nationale Kommission für das Recht auf Identität‹. Luisas Mutter sollte nach Buenos Aires kommen, um gemeinsam mit Damián einen genetischen Verwandtschaftstest vorzunehmen. Im Krankenhaus Durand gibt es ein Labor, wo solche Untersuchungen durchgeführt werden. Haydée versprach Damián, dass all dies unter völliger Geheimhaltung geschehen würde. Das Verfahren gegen seinen Adoptivvater würde von Amts wegen eröffnet, und er selbst würde unter dem Schutz des Untersekretariats für Menschenrechte lediglich als Zeuge auftreten. Aber Damián wollte das nicht.«
»Und warum?«
»Ich denke, er war durch die neue Situation völlig überfordert. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Außerdem wird er Angst gehabt haben. Fernando Alsina ist ein mächtiger Mann. Ein Prozess wegen Kindesraub hätte ihn gesellschaftlich und politisch vernichtet. Damián hatte mit Recht Angst vor ihm. Deshalb brach er den Kontakt zu Haydée ab und verweigerte sich auch den Gruppen, die sich um die Aufklärung dieser Fälle kümmern.«
Und begann, Tango zu tanzen, vollendete Giulietta stumm den Satz des Anwalts. Deshalb hatte er die Schule verlassen, sein fiktives Leben vorsichtig abgestreift, ohne irgendeinen Verdacht über seine Beweggründe entstehen zu lassen. Plötzlich sah sie eine rätselhafte Verbindung. Warum fiel ihr das jetzt erst auf? Das Verhalten ihres Vaters! Damiáns Verhalten! Wie ähnlich sie einander waren, richtige Meister der Verstellung. Ihr Vater hatte jahrelang den Superkommunisten gespielt, um eine Gelegenheit zu finden, aus diesem Regime abzuhauen. Damián hatte den schwer erziehbaren Jugendlichen und schließlich den halb durchgedrehten Tangotänzer abgegeben, um sich vor seinem Adoptivvater zu schützen. Sie waren wesensverwandt. Das Wort setzte ein furchtbares Echo in ihrem Kopf in Gang, aber bevor sie noch überlegen konnte, sprach Kannenberg schon weiter.
»Sein Adoptivvater interessierte ihn überhaupt nicht«, sagte er. »Was ihn interessierte, war sein wirklicher Vater. Deshalb ist er zu mir gekommen.«
»… zu Ihnen, warum … ich verstehe nicht.«
Er nahm seine Tasse zur Hand und trank, bevor er fortfuhr. »Es weist einiges darauf hin, dass Damián Alsinas leiblicher Vater ein Deutscher war, den Luisa Echevery in Kuba getroffen hat.«
Giulietta spürte, wie ihr heiß wurde. Sie griff nach der Teetasse und trank rasch einen Schluck, um ihre Erregung zu verbergen. »Gibt es dafür Beweise?«
Kannenberg schaute sie aufmerksam an. Ahnte der Mann etwas?
»Ja. Luisa Echevery verbrachte 1975 mehrere Monate in Kuba. Nach ihrer Rückkehr hinterlegte sie bei einem Besuch in Corrientes bei ihrer Mutter das Foto eines Mannes. Sie hat auf der Rückseite seinen Namen vermerkt. Wenn die Angabe stimmt, so handelt es sich um einen gewissen Markus Loess, einen ostdeutschen Bergbauingenieur, der sich nach unseren bisherigen Erkenntnissen am 21. Dezember 1975 auf dem Heimflug von Kuba nach Ost-Berlin in Gander den kanadischen Behörden gestellt und um politisches Asyl gebeten hat.«
Giulietta griff noch einmal nach der Tasse. Der Anwalt bemerkte, dass sie zitterte.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Nein, nein … ich meine, doch. Aber woher will Damián das alles gewusst haben?«
Kannenbergs Blick war noch eindringlicher geworden. Dann lehnte er sich vor, nahm seine Brille ab und putzte sie ruhig.
»Markus Loess war offenbar ein Informant und hat in der Geheimdienstbürokratie Spuren hinterlassen. Vermutlich ist er vom amerikanischen Geheimdienst angeworben worden. Es wimmelte damals in Kuba von südamerikanischen Oppositionellen
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