Drei Minuten mit der Wirklichkeit
waren, gesehen hatte. Luisa wusste, dass dies einem Todesurteil gleichkam und sie das Lager nicht mehr lebend verlassen würde.«
Giuliettas Gedanken schweiften ab. Sie hatte Mühe, das alles zu verarbeiten. Handschellen. Augenbinde.
»Haydée Ghibaudo überlebte das Lager. Sie wurde 1980 entlassen. Julián Echevery, alias Damián Alsina, wäre ohne Frau Ghibaudos unermüdliche Suche niemals gefunden worden. Sie fuhr nach Corrientes und ging zu der Adresse, die Luisa ihr genannt hatte. Haydée Ghibaudo traf auf ein altes, halb irregewordenes Weiblein, deren Ehemann, beide Brüder sowie die Söhne und die Tochter ›verschwunden‹ waren. Es war Luisas Mutter. Ihre ganze Familie war ausgelöscht worden. Ihr Mann war bereits während der Unruhen der Tabakarbeiter in den späten sechziger Jahren ermordet worden, weil er einen Streik organisiert hatte. Die Söhne, gleichfalls Gewerkschafter, wurden Anfang der siebziger Jahre von Unbekannten verschleppt und nie wieder gefunden. Luisa floh damals nach Buenos Aires und tauchte erst nach dem Putsch im März 1976 wieder für einige Tage in Corrientes bei ihrer Mutter auf. Danach verschwand auch sie. Die alte Frau gab Haydée Ghibaudo am Ende ein paar Fotos von Luisa und ihren Brüdern sowie die Aufnahme eines Mannes, die Luisa bei ihrem letzten Besuch mit einigen Papieren bei ihrer Mutter hinterlegt hatte.«
»Wann ist das alles geschehen?«, fragte Giulietta.
»Die sozialen Unruhen, die der Diktatur vorausgingen, haben schon in den sechziger Jahren begonnen. Sehen Sie, der Nordosten der Provinz Corrientes ist ein vergessener Weltteil. Es ist ein rechtsfreier Raum, eine danteske Hölle aus Armut, Behördenwillkür und unvorstellbarer Gewalt gegen alle und jeden, der auch nur ein Minimum an den grausigen Zuständen dort ändern möchte. Die Bewohner sind rechtlose Sklaven im eigenen Land. Wie das ja in vielen Ländern Lateinamerikas der Fall ist.«
Damiáns Formulierung kam ihr in den Sinn: ein besiedeltes Wertpapier.
»Aber wie hat diese Frau Damián wieder gefunden, wenn es überhaupt keine Dokumente oder Spuren gab?«
»Es gab ja Dokumente. Die waren zwar gefälscht, aber auch gefälschte Dokumente enthalten Spuren. Die Militärdiktatur in Argentinien war geradezu fanatisch bürokratisch. Nach dem Ende der Diktatur wurde bald bekannt, welche Ärzte mit den Militärs kollaboriert und die falschen Geburtsurkunden ausgestellt hatten. So konnte man den Kreis der möglichen Fälle auf die Kinder eingrenzen, deren Geburtsurkunden von Ärzten unterschrieben waren, die in den Folterlagern gearbeitet hatten. Das war natürlich nur ein Indiz von vielen. Bis diese Kinder gefunden werden, vergehen oft Jahre. Bisher sind etwa sechshundert Fälle aktenkundig. Doch nur ein paar Dutzend Kinder sind tatsächlich gefunden worden. Man muss Tausende von Hinweisen verfolgen, und all dies heimlich, denn die ›Eltern‹ tun natürlich alles, um Nachforschungen zu behindern.«
»Aber Haydée fand ihn?«
»Ja. An einem Februarmorgen des Jahres 1992 wartete sie vor dem Colegio Nacional de Buenos Aires mit dem Foto von Luisas Brüdern in der Tasche auf Damián Alsina. Sie konfrontierte ihn ohne Umschweife mit der Tatsache, dass er nicht Damián Alsina sei, sondern Julián Echevery, und zeigte ihm das Foto seiner Mutter und seiner beiden Onkel.«
Giulietta war fassungslos. »Einfach … einfach so? Ohne Vorbereitung?«
Kannenberg zuckte mit den Schultern. »Ja. Es hört sich unglaublich an. Aber wie soll man solch eine Botschaft langsam überbringen. Es ist wohl in jedem Fall ein Schock, oder?«
»Und wie hat er darauf reagiert?«
»Damián ließ Haydée einfach stehen. Am nächsten Tag wartete sie erneut auf ihn. So ging das einige Tage. Er wollte nicht mit ihr sprechen. Am Ende der Woche sagte er ihr, sie solle sich zum Teufel scheren. Sie gab ihm ihre Telefonnummer und bot ihm an, sie anzurufen, wenn er Fragen habe. Vier Monate später suchte er sie auf. Natürlich hatte diese Begegnung ihm keine Ruhe gelassen
.
Er erfuhr, was in der ESMA mit seiner Mutter geschehen war und dass sein Adoptivvater, Fernando Alsina, sehr gute Kontakte zu den Folterkammern des Regimes gehabt haben musste, um sich dort ein Kind besorgen zu können.«
Er trank einen Schluck Tee und musterte sie. Giulietta wich seinem Blick aus. Ihr Herz schlug wie rasend. Was für ein Abgrund!
»Fernando Alsina hat seinen bemerkenswerten Aufstieg während der Diktatur begonnen und es später verstanden, alle Spuren
Weitere Kostenlose Bücher