Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Corrientes. Warum behält sie das Kind? Warum kehrt sie nach dem Putsch nach Buenos Aires zurück, anstatt sich in Corrientes zu verstecken? Luisa hat keine Ahnung, dass der Mann, mit dem sie eine Affäre hatte, sie verraten hat. Sie weiß, dass alle Schulen und Universitäten observiert werden, aber sie rechnet nicht damit, zu den Gesuchten zu gehören. Sie hat nichts Illegales getan, abgesehen davon, mit vielen Dingen nicht einverstanden zu sein. Und da ist dieses Kind, das in ihr heranwächst. Die ersten Verhaftungswellen hätten sie warnen müssen. Aber ihr Instinkt war getrübt.
24
S ie hörte das Telefon erst nach dem dritten Klingeln. Sie schaute benommen auf. Das Tageslicht hinter den Fenstern hatte jetzt die für die Jahreszeit übliche Grautönung erreicht. Sie griff zum Hörer und vernahm die Stimme ihrer Mutter.
»Giulietta. Ein Glück, dass ich dich noch erreiche!«
Im Hintergrund klassische Musik. Sonntagmorgen in Zehlendorf.
»Willst du heute Abend nicht zum Essen kommen? Nach den Proben.«
Sie antwortete einsilbig, suchte Ausflüchte, doch ihre Mutter war noch nie sehr empfänglich für Zwischentöne gewesen. »Hollrichs kommen auch. Du magst sie doch? Sie haben nach dir gefragt. Wann ist eigentlich die Premiere?«
Sie sagte es ihr. Zum vierten Mal. Sie würde es sich wieder nicht merken.
»Du denkst doch an Freikarten für uns, oder?«
Ja. Natürlich dachte sie daran. Rätselhaft war nur, dass ihre Mutter sie darauf ansprach. Vielleicht lag es daran, dass sie jetzt in der Oper tanzte. Das war immerhin ein akzeptabler Ort. Keine Schulaufführung. Und auch kein Kurzauftritt in irgendeiner Operette.
»Ich habe Papa schon vier Karten schicken lassen. Hat er dir das nicht gesagt?«
»Nein. Das Erste, was ich höre.«
»Vielleicht sprichst du mal mit ihm.«
Der aggressive Ton war bewusst gewählt, aber ihre Mutter reagierte nicht darauf.
»Acht Uhr, ja? Viel Erfolg bei den Proben.«
Als ob sie das auch nur im Geringsten interessierte. Sie legte auf. Abendessen mit ihren Eltern und Hollrichs. Unmöglich! Ihre Mutter überspielte die Missstimmung, die seit jener Auseinandersetzung im Auto zwischen ihnen herrschte. Vielleicht daher die Einladung? Pikanterweise im Beisein von Freunden. Ein Versöhnungsangebot. Die erfolgreiche Tochter vorführen. Normalität. Hollrichs kannte sie, seit sie laufen konnte. Ludwig Hollrich war Papas Chef, ein selbstgefälliger Preuße, der sich unwiderstehlich fand. Als die Mauer fiel, verkaufte er an der Friedrichstraße aus Jux Bananen an die »Ost-Affen«, wie er das nannte. Das hatten die beiden gemeinsam: diese fast schon irrationale Verachtung für den Osten.
Noch vier Tage bis zur Premiere. Es würde ihr nicht schwer fallen, eine Ausrede zu finden. Erschöpfung von den Proben. Kostümtermine. Extradurchläufe, die oft kurzfristig anberaumt wurden. Bis zur Premiere konnte sie eine Begegnung vermeiden. Aber dann?
Allmählich wurde ihr die unerträgliche Situation in ihrer ganzen Tragweite bewusst. Sie konnte ihrem Vater nicht mehr gegenübertreten. Sie würde aufhören, seine Tochter zu sein. Immer wieder stiegen die Bilder ihrer Nächte mit Damián in ihrer Erinnerung hoch. Sie konnte damit nicht umgehen. Es gelang ihr nicht, ein klares Gefühl dazu zu entwickeln. Sie ertappte sich dabei, dass ihr Körper sich wie bei einer unangenehmen Berührung zusammenzog. Sie hatten sich nie zuvor gesehen, waren wie zwei Fremde, als sie sich begegneten. Ihre Liebe war wahrhaftig. Und dennoch unnatürlich.
Die Scham.
25
W arum bist du gestern nicht gekommen?«
Seine Stimme klang eigenartig. Sie war erst seit wenigen Minuten wach.
»Späte Probe«, log sie. »Ich war zu erschöpft.«
»Hättest du nicht wenigstens anrufen können?«
Allein die Stimme war ihr zuwider. Sie versuchte sich zu beherrschen, aber die Bemühung, Entschuldigungen für ihn zu finden, schlug in nur noch größeren Widerwillen gegen ihn um. Sie suchte nach einem Satz, der ihn von einer Sekunde zur nächsten seiner ganzen Lügen entkleiden, ihm keinen Raum zu einer Erwiderung lassen würde. Und gleichzeitig hatte sie Angst davor. Mein Gott, ihr Vater. Nein, nicht ihr Vater. Markus Loess. Der Mann, der Luisa auf dem Gewissen hatte. Und in gewisser Hinsicht auch Damián. Hätte er ihr die Wahrheit gesagt. Hätte er eine Geste in seine Richtung gemacht. Doch selbst jetzt spielte er noch den Unwissenden. Warum hatte Damián sich das Leben genommen? Ihretwegen? Vielleicht sogar seinetwegen?
Sie
Weitere Kostenlose Bücher