Drei Minuten mit der Wirklichkeit
jeglicher Couleur. Entsprechend groß war das Interesse der Geheimdienste, die Namen der Leute zu bekommen, die sich in Kuba aufhielten. Wir wissen noch nichts Genaues über Markus Loess, weil die Gauckbehörde seine Akte noch nicht gefunden hat. Aber wir haben die Akte aus Lambaré.«
Das Porzellan klirrte, als Giulietta die Tasse abstellte. Lambaré!
»Was ist Lambaré?«, fragte sie leise.
»Ein Vorort von Asunción, der Hauptstadt von Paraguay. Es war jahrelang die Schaltzentrale für die Vorbereitung der Staatsstreiche in Südamerika und auch für Mordkomplotte gegen unliebsame Politiker und Oppositionelle. Das Projekt hieß Operation Condor. Der amerikanische Geheimdienst sammelte Informationen und leitete sie an die lateinamerikanischen Diktaturen weiter. Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile und Argentinien waren eine unentrinnbare Falle geworden. Aber es gab auch Operationen im Ausland. Sogar in Washington, Rom und Madrid wurden Exilpolitiker ermordet. Die Attentate wurden linken oder rechten Terroristen in die Schuhe geschoben. Tatsächlich wurden sie innerhalb der Operation Condor geplant und ausgeführt. Als Stroessner 1989 gestürzt wurde, blieb offenbar keine Zeit mehr, das Archiv zu vernichten. 1992 wurde es entdeckt, und seither wird es ausgewertet. Sieben Tonnen Papier, die gesammelten Gräueltaten der südamerikanischen Diktaturen nebst den Tipps und Anweisungen ihres Hauptinformationslieferanten, der CIA . Markus Loess wurde in Gander erst von den Kanadiern und dann von amerikanischen Geheimdienstbeamten verhört. Eine Abschrift des Protokolls dieser Verhöre ist in Lambaré gefunden worden.«
»Aber wie … ich meine, wie hat man …«
»Durch eine Liste. Das Protokoll enthielt eine Liste von Personen, die Herr Loess in Kuba getroffen hat. Zweiundvierzig Namen … auch der von Luisa Echevery.«
Giulietta brauchte einen Augenblick, bis ihr die Bedeutung der letzten Äußerung klar geworden war.
»Sie meinen, Markus Loess hat Luisa Echevery an den argentinischen Geheimdienst verraten.«
»Nein, an den amerikanischen. Wir haben keine Informationen darüber, ob Herrn Loess klar war, welche Konsequenzen seine Aussage haben würde. Von der Operation Condor wusste damals kein Mensch. Nicht einmal Jimmy Carter. Es war das Werk von am Rande der Legalität operierenden Geheimdienstbürokraten, die die Welt gegen die kommunistische Verschwörung schützen wollten. Loess war mit Sicherheit nur ein kleiner Fisch, ein unzufriedener DDR -Auslandskader, den man mit Geld und dem Versprechen eines westdeutschen Passes leicht kaufen konnte. Seine Spur verliert sich in Gander. Im Innenministerium gibt es keine Akte Loess. Das heißt, er war kein wirklicher Agent und ist auch später nicht geheimdienstlich tätig gewesen. Wahrscheinlich hat er einfach seinen Namen geändert. Bei DDR -Flüchtlingen wurden diesbezüglich keine Eintragungen vorgenommen, um etwaige Verfolgung durch die Staatssicherheit zu verhindern. Deshalb können wir ihn nur über die Gauckbehörde finden … es sei denn, Sie sagen mir, was aus Herrn Loess geworden ist.«
Sie schloss die Augen. Da war dieser Moment gewesen, ein weit zurückliegender Augenblick: jener Sonntagabend im Oktober nach ihrem ersten Wochenende mit Damián. Ihr Vater war überraschend gekommen. Es hatte sie gestört, enorm gestört. Und dann war da diese Gebärde gewesen, die sie sich noch jetzt in Erinnerung rufen konnte, weil sie dafür ein Gedächtnis hatte. Sie war Tänzerin. Sie hatte einen Blick für Gebärden. Ihr Vater stand dort im Raum, den Rücken zu ihr gekehrt, und vollzog eine suchende Bewegung. Und sie hatte plötzlich den Eindruck gehabt, er sei jemand anderes. Nein, sie hatte sich eingebildet, sie erkenne etwas wieder, das hier nicht hergehörte. Als spreche ein vertrauter Mensch plötzlich einen einzigen Satz mit völlig veränderter Stimme. Jetzt sah sie, was dieses unheimliche Gefühl ausgelöst hatte: diese suchende Bewegung ihres Vaters. Sie erinnerte sie an … Damián. Auch er bewegte sich so, denn … sie spürte ein Würgen im Hals … Damián … er war …
Der Anwalt musste zweimal nachfragen, bis er den tränenerstickten Worten des Mädchens vor ihm auf dem Stuhl entnommen hatte, was sie ihm sagen wollte. Als er es endlich verstanden hatte, brachte er vor Verblüffung kein Wort mehr heraus.
Dann senkte er den Kopf und betrachtete hilflos seine Hände.
»… großer Gott«, flüsterte er.
23
S ie steht in ihrem Badezimmer vor dem
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