Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Spiegel und betrachtet ihr Gesicht. Diese Lippen hat er geküsst. Unwissend zunächst, wie sie, doch am Ende im vollen Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit.
Sie sieht ihn vor sich, nackt, den Mann, den sie begehrt hat wie keinen Mann jemals zuvor. Damián. Ihr Halbbruder. Sie formt das Wort noch immer wie betäubt in ihrem Mund. Da sind diese Berührungen während der letzten Nacht in Buenos Aires. Sie spürt sie noch immer. Und zugleich empfindet sie Stolz und Scham. Wer wäre jemals so geliebt worden? Er weinte und schwieg. Seine Halbschwester, die er entkleidet und liebkost, die einzig mögliche Geste in diesem Gewirr aus Lügen und Verrat, gefolgt von einer Irrfahrt ins Nichts?
Die Scham. Die Schande.
Auch davon ist etwas in diesem Gesicht, das sie jetzt erkundet. In der letzten Stunde vor dem Morgengrauen, im Badezimmer vor dem Spiegel, die Augen dunkel umschattet, die schmalrasierten Brauen, die leicht eingefallenen Wangen, ihre Lippen, trocken und aufgesprungen. Ihre Sinne sind taub. Da ist niemand, mit dem sie sprechen könnte. Sie ist allein. Ganz allein. Es ist gerade so, als sei sie über Nacht zur Waise geworden. Wie er. Wie Damián. Sie hebt die Hand und streicht über ihr Gesicht im Spiegel. Sein Gesicht. Sie sind sich gleich. Wo hat sie diese zwanzig Jahre gelebt? Ihr Vater eine Maske. Und ihre Mutter? Wie kann sie damit gelebt haben? Mit diesem halbierten Mann?
Auf dem Schreibtisch liegt Briefpapier. Nicht einmal eine passende Anrede ist ihr eingefallen. Lieber Papa? Liebe Mama? Sie hat keine Worte. Sie sieht den fünfzehnjährigen Damián vor seiner Schule in Buenos Aires, wie er aus dem Mund einer fremden Frau erfährt, dass er nicht der ist, der er zu sein glaubt. Sie weiß jetzt, was er gefühlt haben muss. Jene Stummheit, die am Ende aller Überlegungen steht. Und er begann zu tanzen. Ihr Halbbruder. Gewiss.
Sie stützt sich auf das Waschbecken und atmet tief. Die Unausweichlichkeit der Ereignisse der letzten Monate erfüllt sie immer wieder mit Staunen. Und stets ist es ihr Vater, der die Wahl hat, das Unheil aufzuhalten, und es nicht tut. Frag deinen Vater. Er weiß alles. Sie ahnt jetzt, was in jener Nacht zwischen Damián und ihrem Vater vorgefallen sein muss. Er hat ihm ein Angebot gemacht. Sag deiner Tochter, was du getan hast. Nur ihretwegen verschone ich dich.
Aber ihr Vater zog es vor, sie anzulügen. Vermutlich aus Feigheit. Wie ihm gegenübertreten? Was soll sie ihm bloß sagen? Aber seltsamerweise verweilen ihre Gedanken kaum bei ihm. Sie weiß, dass sie ihn für immer verloren hat. Wie sollte sie ihm jemals verzeihen?
Warum war Damián nach Europa gekommen? Was war sein Motiv gewesen? Wollte er seinen Vater finden? Oder den Menschen, der für das Schicksal seiner Mutter verantwortlich war? Wollte er Luisa rächen?
Und begegnet war er ausgerechnet ihr.
Zufall?
Sie ruft sich jenen Freitag in Erinnerung, als sie die Treppe zum Probensaal hinaufgestiegen war. Sie war der Musik gefolgt. Diese Musik hatte sie zusammengeführt.
Tango.
Zufall.
Renaceré.
Sie geht ins Zimmer zurück und setzt sich auf die Couch. Ein erster Schimmer Morgendämmerung taucht die Umgebung in kühles Zwielicht. Nieselregen. Das Geräusch von Autoreifen auf nassem Asphalt. Sie betrachtet das Telefon, das Briefpapier auf dem Schreibtisch, dann wieder ratlos ihre Hände. Sie trinkt längst kalt gewordenen Pfefferminztee und wundert sich, dass ihre Kehle hartnäckig trocken bleibt.
Sie sucht einen Weg in den wirren Kopf ihres Vaters hinein und findet keinen. Sie möchte ihm gegenübertreten, ihm alles ins Gesicht sagen. Warum hast du diese Frau verraten? Was hatte sie dir getan? Zweiundvierzig Namen. Das war der Preis für seine Freiheit gewesen. Zweiundvierzig Menschen. Wer waren die anderen? Hatte er sie alle gekannt? Waren sie wegen seiner Aussage später in ihren Heimatländern verhaftet und umgebracht worden? Musste er das nicht gewusst haben? Der Junge auf der Bank am Weiher, der hemmungslos weint, als man die Tiere holt. Der Kommunistenhasser. Der scharfe Hund der Partei. Markus Battin. Wo ist dein Sohn?
Der Anwalt hat ihr ein Bild von Luisa gezeigt. Lockige schwarze Haare. Ein hübsches Gesicht. Vierundzwanzig Jahre war sie damals alt. Mitglied der Lehrergewerkschaft. Sie hatte Alphabetisierungsprogramme in den Slums von Buenos Aires organisiert. Was sie im November und Dezember 1975 in Kuba tat, ist unklar. Sie kehrt im Januar 1976 nach Argentinien zurück und verbringt einige Wochen in
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