Drei Minuten mit der Wirklichkeit
nutzte, ihm noch einmal gehörig auf die Nerven zu fallen. Es kam so weit, dass Heert während des Durchlaufs am Nachmittag einfach verschwand und Maggie mit Theresa und der Gruppe allein ließ. Giulietta absolvierte ihre beiden Soli, nutzte jedoch Heerts Abwesenheit und tanzte die strittigen Passagen weniger markant. Maggie wäre am Abend der Aufführung ohnehin nicht mehr da. Warum sie noch provozieren? Giulietta absolvierte
Libertango
mehr oder minder so, wie Beckmann es geschrieben hatte, und dämpfte die Tango-Elemente auf ein Minimum. Bei jedem Schritt fühlte sie die Diskrepanz zwischen der Musik und den Bewegungen stärker. Sie spürte wohl, was mit den Tanzfiguren gemeint war, aber sie waren wie für eine schwerelose Welt geschrieben.
Nicht ihre Welt.
22
E s schneite ein wenig, als sie in die Fasanenstraße einbog.
Sie stieg die geschwungene Treppe in den dritten Stock hinauf und klingelte erst, nachdem sie ihren Schal und ihre Mütze abgenommen hatte.
Kannenberg öffnete, half ihr aus dem Mantel und hing ihn umständlich auf einen Bügel. Er war offensichtlich nicht sehr geübt darin.
Dann saß sie wieder auf dem gleichen Stuhl wie schon zwei Tage zuvor. Kannenberg servierte Tee, der neben dem Computer auf einem Holztablett stand. Seine jetzt sehr zuvorkommende Art hatte fast etwas Rührendes. Er war überaus freundlich, erkundigte sich nach ihrer Arbeit und schien bemüht, den eigentlichen Anlass ihres heutigen Treffens zunächst zu ignorieren. Und als er endlich auf Damián zu sprechen kam, tat er dies auf einem Umweg.
»Haben Sie Damián Alsina durch das Tanzen kennen gelernt?«
»Ja und nein.« Sie schilderte in knappen Zügen ihre Begegnung mit Damián im
Chamäleon
.
»Schade. Er hat mir nicht gesagt, dass er hier auftritt. Das hätte ich mir gerne angeschaut.«
»Wann hat er sich denn das erste Mal bei Ihnen gemeldet?«
»Im Januar letzten Jahres.«
»Und warum?«
Er schwieg einen Augenblick lang. Offenbar widerstrebte es ihm noch immer, ihr Einzelheiten preiszugeben.
»Herr Kannenberg, ich bin vor zwei Tagen zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, was ich weiß. Aber ich werde das nur tun, wenn Sie mir helfen, eine Erklärung für Damiáns Selbstmord zu finden.«
Der Anwalt schaute sie bekümmert an. »Laut Strafgesetzbuch nennt man das Erpressung«, sagte er.
Giuliettas Blick verfinsterte sich. Es war sinnlos. Warum nur? Gab es denn in alle Richtungen immer nur Geheimnisse und Dinge, die niemand wissen durfte? Sie öffnete ihre Handtasche und holte ihren Personalausweis hervor.
»Mein Freund hat sich das Leben genommen …«, stammelte sie, »… und ich will wissen, warum.« Sie schaute ihn flehend an. »Verstehen Sie das nicht?«
Kannenberg blickte betreten zu Boden.
»Bitte helfen Sie mir. Hier ist mein Ausweis. Ich unterschreibe jede Schweigeverpflichtung. Aber bitte sagen Sie mir, warum Damián sich umgebracht hat. Sie wissen es doch, oder? Bitte …«
»Ich weiß nicht, warum er sich das Leben genommen hat«, erwiderte er. »Aber gut, ich werde Ihnen einige Dinge erklären. Aber Sie müssen diese Informationen für sich behalten, versprechen Sie mir das?«
Giulietta nickte.
»Und dann sagen Sie mir, wo sich Markus Loess aufhält?«
Sie zögerte. Was um alles in der Welt hatte Damián mit ihrem Vater zu tun? Wo war die Verbindung? Sie musste es wissen.
»Ja«, sagte sie leise. »Ich verspreche es Ihnen.«
»Also gut. Fangen wir an.«
Er drückte auf einen Knopf an seinem Tischtelefon, drehte den Schirm seiner Schreibtischlampe etwas nach unten und schenkte sich Tee nach.
»Sie wissen ein wenig über die jüngste argentinische Geschichte?«
»Die Militärdiktatur? Ja, ein wenig.«
Er lehnte sich zurück, nahm seine Brille ab und putzte sie. »Und Sie wissen auch, dass Damián Alsina ein Adoptivkind ist?«
»Ja. Ein Findelkind.«
»Findelkind? Hat er Ihnen das erzählt?«
»Nein. Seine Mutter.«
»Sie kennen seine Mutter?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Aber ich habe sie in Buenos Aires getroffen.« Sie schilderte das Gespräch mit Frau Alsina. »Sie sagte mir, dass Damián in einem Hausflur gefunden wurde.«
Kannenberg erwiderte nichts. Stattdessen schrieb er etwas auf einen Notizblock, der vor ihm lag. Seine Handschrift war sehr deutlich. Giulietta konnte leicht entziffern, was er geschrieben hatte: M. D. Alsina – Baby – Hausflur?
»Frau Alsina hat Sie ihn Ihrem Hotel aufgesucht, sagten Sie?«
»Ja.«
»Woher wusste sie denn, dass Sie in Buenos
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