Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Aires waren?«
Giulietta stutzte. Dann erinnerte sie sich. »Von Herrn Ortmann, Damiáns altem Deutschlehrer im Colegio Nacional.« Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Ortmann.
Kannenberg war sichtlich erstaunt. »Und Sie meinen, Ortmann hat auf eigene Initiative Frau Alsina informiert, dass Sie in Buenos Aires sind und Damián suchen?«
»Ja. Ich habe sie sogar gefragt und sie hat es bestätigt.«
Kannenbergs Gesichtsausdruck war ernst geworden. Er runzelte die Stirn und schüttelte kurz den Kopf. »Das ist unmöglich«, sagte er dann.
»Warum?«, fragte Giulietta verunsichert.
»Das werden Sie gleich selbst sehen. Aber eins nach dem anderen.«
Der Name
Ortmann
erschien auf seinem Block.
»Damián Alsina wurde vermutlich im September des Jahres 1976 in der Escuela Mecanica de la Armada, abgekürzt ESMA , in Buenos Aires geboren. Seine Mutter hieß Luisa Echevery. Sie war damals vierundzwanzig Jahre alt und seit sieben oder acht Wochen in der ESMA gefangen.«
Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte sie zusammen. ESMA . Der furchtbare Nachmittag war ihr noch gut in Erinnerung.
»Das Wort habe ich schon mehrfach gehört«, sagte sie leise. »Das ist eine Kaserne in Buenos Aires, nicht wahr?«
»Die ESMA war eine der schlimmsten Folterkammern der argentinischen Militärdiktatur. Es sind dort schätzungsweise sechstausend Menschen verschwunden. Argentinien darf sich rühmen, im Katalog der entsetzlichsten Teufeleien, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat, ein eigenes Kapitel beigesteuert zu haben:
los desaparecidos
, die Verschwundenen. Damián Alsina ist das Kind einer Verschwundenen.«
Er lehnte sich zurück und musterte sie. Giulietta schluckte, hielt jedoch seinem Blick stand. Was hatte Lindsey gesagt? Auschwitz.
»Soll ich weitersprechen?«, fragte er.
»Ja. Bitte.«
»Luisa Echevery, Damiáns Mutter, wurde am 24. Juli 1976 im Zentrum von Buenos Aires an einer Bushaltestelle von Männern in Zivil gewaltsam in ein Auto gezerrt und entführt. Ihr ›Verschwinden‹ ist dokumentiert, da einige Zeugen ihre Hilferufe hörten. Frau Echevery schrie so lange ihren Namen, bis sie durch mehrere Faustschläge ins Gesicht zum Schweigen gebracht worden war.«
»Weiß man, warum sie verhaftet wurde?«
»Weil sie Gewerkschaftsmitglied war. Frau Echevery war zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung hochschwanger und wurde daher nur ›schonend‹ gefoltert, da die Kinder der Gefangenen als eine Art Staatsgut behandelt wurden und nach Möglichkeit überleben sollten. Die Umstände der Geburt dieses Kindes sprengen jegliche Vorstellungskraft, und ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Es kam irgendwann im September zur Welt. Die Geburtsurkunden wurden von Amts wegen gefälscht, um spätere Nachforschungen zu behindern, daher ist das genaue Datum unbekannt. Von Frau Echevery fehlt seither jede Spur.«
Kannenberg machte eine Pause. Dann fuhr er fort: »Es gibt einige hundert bekannt gewordene Fälle von verschleppten jungen Frauen, die in den Folterlagern der argentinischen Militärdiktatur gezwungen wurden, ihre Kinder auszutragen. Die Neugeborenen wurden an Angehörige des Militärs, der Polizei oder diesen Kreisen nahe stehende Personen verkauft. Die Mütter wurden ermordet. Es handelte sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um ein ›Programm zur Reinigung des Volkskörpers von subversiven Elementen‹, wie die argentinischen Militärs das intern begründeten.«
Der Anwalt unterbrach sich erneut und betrachtete Giuliettas Gesicht, das blass geworden war.
»Sind Sie sicher, dass Sie das alles hören möchten?«
»Ja. Bitte. Ich möchte alles wissen.«
Er räusperte sich und fuhr fort.
»Eine Mitgefangene namens Haydée Ghibaudo hat Luisa Echevery nach der Geburt ihres Kindes noch für einige Stunden versorgt, bevor sie ›verlegt‹ wurde. Luisa beschwor jene Haydée, ihr Kind zu suchen, falls sie jemals lebend aus dieser Hölle hinausgelangen würde. Luisa wusste, dass ihr Baby ein Junge war, und nannte ihn Julián …«
Giuliettas Magen verkrampfte sich. Julián und Juliana! No soy Alsina! Alles lief hier zusammen.
»… außerdem gab sie Haydée eine Adresse in Corrientes, wo sie weitere Informationen über ihre Familienangehörigen erhalten würde. Dann wurde Luisa abgeholt. Man hatte ihr während der Geburt zwar die Handschellen nicht abgenommen, dafür aber auf eine Augenbinde verzichtet, so dass sie sowohl die Hebamme, den Arzt als auch einige Militärs, die bei der Niederkunft anwesend
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