Drei Minuten mit der Wirklichkeit
brachte das Gespräch irgendwie zu Ende und floh aus der Wohnung. Sie saß mit klopfendem Herzen in der U-Bahn, umgeben von schlecht gelaunten Menschen. Die meisten hatten die Köpfe im Sportteil der Montagszeitung vergraben.
Als sie die Treppe zum Probensaal hinaufging, kam sie an der Druckerei vorbei. Sie blieb stehen, ging schließlich hinein und wechselte ein paar Worte mit einem der Angestellten. Er gab ihr ein leeres Blatt, sie schrieb etwas darauf und reichte es ihm.
»Schaffen Sie das noch bis Donnerstag?«, fragte sie nervös.
Der Mann nickte. »Klar. Kein Problem. Wir drucken erst am Mittwoch.«
Giulietta verließ erleichtert den Raum.
Doch sofort kehrte ihre Unruhe zurück. Drei Tage. Spätestens am Abend der Premiere würde sie ihn sehen müssen. Ihre Eltern würden es sich nicht nehmen lassen, hinter die Bühne zu kommen. Ihr erster großer Auftritt. In einem der besten Häuser. Sie hörte ihren Vater buchstäblich vor seinen Kollegen prahlen. Seine Giulietta. Seine Tochter. Alle würden es wissen. Giulietta Battin tanzt an Stelle von Marina Francis das Tango-Solo des Ballett-Abends. Es wäre auch sein Triumph. Vor den Kollegen, die kommen wollten. Vor ihrer Mutter, die jahrelang kein anerkennendes Wort für ihre Arbeit gefunden hatte. Sie würde aus der Reihe der Tänzerinnen hervortreten und ein Individuum sein. Keine der Nymphen in Trikot und Tutu, die aus der Ferne alle gleich aussahen, zwischen denen die Blicke umherirrten, ohne sich jemals irgendwo länger aufzuhalten. Sie würde die Blicke von zweitausend Besuchern für die Dauer eines Tangos auf sich lenken, und jeder würde wissen, wer sie war.
Wer sie war?
Der Gedanke ließ sie schaudern. Doch zugleich gab er ihr Kraft. Sie absolvierte die Probe ohne einen Fehler. Sie beherrschte jedes Detail der komplizierten Choreografie. Ihr Körper gehorchte ihr. Sie spürte Anerkennung von Seiten der Kolleginnen. Man akzeptierte, dass sie diesem Stück etwas Besonderes gab. Heert korrigierte sie überhaupt nicht mehr, sondern betrachtete mit stummer Begeisterung das Ergebnis seiner Arbeit. Er veränderte die Aufstellung im Schlussbild, platzierte Giulietta etwas weiter hinten in der Gruppe, versteckte sie ein wenig, um sie erst im Finale wieder nach vorne zu holen. Die letzten zwei Minuten gehörten ihr ganz.
Nach der Mittagspause war Bühnenprobe. Zum ersten Mal spürte sie die riesigen Ausmaße des Zuschauerraums. Sie wusste, dass man während der Aufführung vor lauter Scheinwerfern kaum etwas davon wahrnahm. Doch schon die leeren Sessel hatten eine überwältigende Wirkung. Offensichtlich auch auf eine Gruppentänzerin, die sich im ersten Teil den Knöchel verstauchte. Heert beschwor die anderen, sich zu konzentrieren und nicht zu übertreiben. Nervosität und Aufgeregtheit waren mit Händen greifbar. Das Stück stand. Die Musik, hinreißend sowohl in den Fortissimi als auch in den Piani, berührte auch noch nach dem soundsovielten Mal. Eine Musik, die an Orten wie diesem selten zu hören war. Diese Musik, die ihr immer mehr zu schaffen machte, je näher der Aufführungstermin rückte.
26
A m Dienstagmorgen rief Kannenberg an und bat sie noch einmal in sein Büro. Als sie ihm am Abend gegenübersaß, fragte er sie nach ihrer Zusammenkunft mit Frau Alsina. Giulietta erzählte von der Nachricht in ihrem Hotel. Als der Name Ortmann fiel, war Kannenberg hellhörig geworden.
»Sie meinen also wirklich, Ortmann habe Frau Alsina benachrichtigt?«
»Ja.«
Sie erzählte ihm erneut von ihrem seltsamen Besuch bei dem Lehrer. Dann deutete sie auf die Liste neben der Tür. »Warum steht sein Name eigentlich dort?«
»Weil sein Sohn zu den deutschstämmigen Opfern der argentinischen Militärdiktatur zählt.«
»Ortmanns Sohn?«
»Ja.«
»… aber warum?«
Kannenberg zuckte mit den Schultern. »Mit dieser Frage kommen Sie in dieser Angelegenheit nicht sehr weit. Es gibt kein einfaches
warum
. Es gibt nur ein wer, ein was und ein wann. Tomas Ortmann wurde im Juni 1976 mit fünf anderen Schülern verhaftet und ist seither verschwunden. Wir klagen im Auftrag der Familie gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen unterlassener Hilfeleistung.«
Giulietta runzelte fragend die Stirn.
»Tomas Ortmann hatte neben der argentinischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Botschaft wäre verpflichtet gewesen, sich für die inhaftierten deutschen Staatsbürger einzusetzen. Das hat sie überhaupt nicht oder nur sehr zögerlich getan.«
»Sie meinen, die
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