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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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dieser Woche überhaupt einen Kontakt zwischen den beiden? Was hatte Damián während dieser Woche eigentlich gemacht? Wo lebte er? In der leeren Wohnung, wo sie sich zuletzt getroffen hatten?
    Sunderland, dachte sie dann. Arquizo musste ihr bis in diesen weit abgelegenen Vorstadtclub gefolgt sein, in der Annahme, Damián dort zu finden. Lindseys Bemerkung, zwei Männer seien ihr gefolgt. Ob Damián sie in seinem Schreck überhaupt gesehen hatte? Vermutlich nicht. Oder vielleicht doch? Oder sollte Arquizo Damián möglicherweise nur finden, weil sein Adoptivvater mit ihm sprechen wollte? Und war Damián wieder nur durchgedreht, wie in Berlin?
    Damiáns Handlungen. So rätselhaft wie seine Tangos. Aber sein Tanz war ihr jetzt vertraut. Sie schaute sich den Mitschnitt der letzten Aufführung in Berlin an.
Renaceré
. Sie lauschte dem Text des Liedes, entdeckte plötzlich eine ganz andere Bedeutungsebene. Während die letzte Strophe erklang, sah sie plötzlich diese mit Fotos plakatierte Hauswand von San Telmo wieder vor sich:
    Du wirst schon sehen, im Jahr 3001
kehr ich zurück mit den Jungs und Mädchen,
die es niemals gab und geben wird …
    Welchen anderen Titel als diesen hätte er wählen sollen? Er tanzte seine Wiedergeburt, indem er zugleich die Maske seines jahrelangen Schweigens zerstörte: Tango. Es sollte sein letzter Tanz sein. Das Ende von Damián Alsina. Erst jetzt erkannte sie die Verzweiflung, die in dieser Befreiung mitschwang. Er, den es niemals gab und geben wird. Julián Echevery. Das geraubte Kind, ihr Geliebter und Halbbruder. Er war an einem Endpunkt angelangt. Er hatte seinen Vater gefunden. Und im gleichen Augenblick hatte er sie verloren. Wohin jetzt noch mit seiner Rache, seiner Liebe? Er war allein auf der Bühne, hob die Arme und präsentierte sich dem verständnislosen Publikum. Julián Echevery, der er nicht sein durfte. Damián Alsina, der er nicht sein wollte. Seine getanzte Absage an eine verhexte Welt.

28
    D as Bild verließ sie bis zur Premiere nicht mehr.
    Als sie zwei Stunden vor dem Auftritt von einem Spaziergang zurückkam, wartete Lutz am Bühneneingang auf sie. Sie freute sich, ihn zu sehen, und umarmte ihn herzlich. Er bestand darauf, sie zur Maske zu begleiten, da er der festen Überzeugung war, dass er ihr Glück brachte.
    »Wie kommst du darauf?«, fragte sie lachend und spürte zugleich die ersten Anzeichen von Lampenfieber in sich aufsteigen.
    »Ein untrügliches Gefühl. In welcher Umkleide bist du?«
    »Na, na. Solche Neugier. Das ist geheim.«
    Er schaute aufmerksam einem Tänzer hinterher, der im Flur an ihnen vorbeikam.
    »Seine Umkleide interessiert dich wahrscheinlich ohnehin mehr als meine, oder?«, fragte sie spöttisch.
    Er zog viel sagend die Augenbrauen hoch. Dann begrüßte er zwei Tänzerinnen, die er offenbar gut kannte. Giulietta ließ die drei auf dem Gang zurück, betrat ihren Umkleideraum und deponierte ihre Tasche auf dem Stuhl vor ihrem Schminktisch. Die anderen fünf Tische waren noch unbesetzt. Kurz darauf betrat ausgerechnet Enska den Raum, legte wortlos ihre Tasche ab und verschwand wieder. Dann hörte sie die Stimme von Lutz an der Tür.
    »Gehn wir noch einen Kaffee trinken?«, fragte er. »Du bist viel zu früh.«
    Sie folgte ihm in die Kantine. Es war nicht viel Betrieb. Sie setzten sich etwas abseits.
    Lutz musterte sie. Seine Augen glänzten.
    »Warum schaust du mich so an?«, fragte sie nervös.
    »Ich finde es einfach toll, was heute Abend hier geschieht. Mensch, Giulietta. Dein erstes Solo. Was machst du anschließend?«
    Die Frage traf sie völlig unvorbereitet. Anschließend? Sie hatte keine Ahnung. Sie zuckte mit den Schultern, und ihr Gesichtsausdruck spiegelte ihre Ratlosigkeit wider.
    Lutz knuffte sie freundschaftlich.
    »Schlafen«, sagte sie. »Ausruhen.«
    »Keine Party?«
    »Doch. Bei Viviane. Vielleicht gehe ich kurz hin. Willst du mitkommen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann nicht. Ich muss nachher gleich nach Hause. Besuch von einem alten Freund.«
    Er hörte einfach nicht auf, sie anzustrahlen, als sei er derjenige, der heute Abend ein Solo tanzen durfte. Zwei Kolleginnen betraten die Kantine und winkten kurz zu ihnen herüber. Eine machte mimisch ein Zeichen. In fünfzehn Minuten zur Maske.
    Giuliettas Nervosität nahm zu. »Was machst du gegen das Lampenfieber?«, fragte sie ihn.
    »Schreien«, sagte er.
    »Jedes Mal?«
    »Eine halbe Stunde vorher. Kurz und laut. Danach ist alles gut.«
    Sie schaute auf ihre

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