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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Kaffeetasse und schob sie von sich.
    Lutz ergriff ihre rechte Hand und drückte sie freundschaftlich. »Das hilft auch«, sagte er, »du wirst großartig sein, ich bin sicher.«
    »Danke.« Sie genoss die Berührung und den Zuspruch. »… auch dafür, dass du letzte Woche mitgekommen bist.«
    »Keine Ursache. Hat Spaß gemacht. Ich wollte schon immer mal nach Rostock.«
    Sie schnitt ihm eine Grimasse.
    »Weißt du eigentlich, was das Besondere an deinem Gesicht ist?«, fragte er dann.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Deine Augenlider. Die unteren meine ich. Sie sind waagrecht. Das ist sehr selten, musst du wissen. Du siehst bezaubernd aus, Giulietta. Eigentlich schade, dass du eine Frau bist.«
    Sie zog ihre Hand zurück. Sie spürte einen Stich im Herzen.
    »Charmeur … aber toll, dass du gekommen bist«, sagte sie matt, »… ich fühle mich so leer, so allein …«
    Er legte den Kopf schief und schaute ihr aufmunternd in die Augen. Sie konnte nicht anders, als zu lächeln.
    »Wie war das für dich, mit Damián zu tanzen?«, fragte sie. »Warst du in ihn verliebt?«
    »Ein wenig vielleicht. Aber er mochte keine Männer.«
    »Fehlt er dir nicht?«
    Lutz wich ihrem Blick aus und sagte nichts.
    »Weißt du, woran ich oft denken muss?«
    Er hob den Kopf wieder und betrachtete sie ernst.
    »An diese Mütter und Großmütter, die ihre Kinder und Enkel suchen. Du bist doch in Buenos Aires gewesen. Hast du sie nicht gesehen? Diese Mütter, die auf diesem Platz herumlaufen, seit über zwanzig Jahren. Weißt du, wie man sie dort nennt?«
    Er nickte. »Las Locas.«
    »Las Locas … weil sie Gerechtigkeit für ihre ermordeten Kinder fordern.« Sie verstummte kurz und fügte dann hinzu: »Und weißt du, was ich mich frage? Da sind die Mütter … und die Großmütter … aber wo zum Teufel sind die Väter?«

29
    A uf dem Rückweg zur Umkleide durchquerte sie den Innenhof zwischen der Kantine und dem Intendanzgebäude. Die beiden Gestalten am Hoftor sah sie erst, als es bereits zu spät war.
    »Giulietta. Liebes.«
    Die Stimme schnitt ihr fast den Atem ab. Ehe sie sich versah, stand ihr Vater neben ihr, legte den Arm um ihre Schulter und drängte sie sanft in die Richtung, in die sie ohnehin gehen wollte. Ihre Mutter verhandelte noch mit dem Pförtner. Wortfetzen trieben herüber, während er bereits die Tür zum Gebäude aufdrückte. Ihr Vater stellte ununterbrochen Fragen. Ob sie sich schon warm gemacht hatte? Warum sie bei der Kälte durch den Hof ging und nicht über die Brücke? Dann rief er in herrischem Ton nach seiner Frau. Ihre Mutter löste sich aus dem Lichtschein des Pförtnerhäuschens und kam auf sie zu. »Anita, wo bleibst du denn. Giulietta muss zur Maske.«
    Sie betraten den Vorraum des Treppenhauses. Ihre Eltern waren herausgeputzt wie für eine Galavorstellung. In ihrem Trikot und den Schläppchen fühlte sie sich unbedeutend und fast schäbig neben ihnen. Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Eindruck, alles müsste wie früher sein. Ihr Vater redete unentwegt. Seine Aufregung hatte eine paradoxe Wirkung auf sie: sie wurde ruhiger. Ihre Mutter zog das Programmheft aus ihrer Handtasche und wollte wissen, an welcher Stelle sie welche Rolle tanzen würde.
    »Mein Gott, Anita, wir sitzen in Reihe drei, aus der Entfernung wirst du ja wohl deine eigene Tochter wieder erkennen.«
    »Erst kommen die Strawinsky-Variationen«, sagte Giulietta. »Da tanze ich nicht mit. Dann ist Pause. Tango-Suite ist danach dran. Es sind vier Teile. Ich tanze das Solo in Teil zwei, und in Teil vier bin ich erst in der Gruppe und dann am Schluss noch einmal allein.«
    Ihre Mutter betrachtete irritiert den Besetzungszettel. »Aber wo stehst du denn? Ich finde dich einfach nicht.«
    Aus den oberen Stockwerken ertönte ein Klingelzeichen. »Ich muss jetzt wirklich los.«
    Ihr Vater drückte sie noch einmal an sich, während ihre Mutter noch immer den Zettel studierte. Giulietta ertrug die Umarmung mit geschlossenen Augen und ging dann schnell zwei Schritte die Treppe hoch.
    »Markus, ich kann ihren Namen nicht finden«, sagte ihre Mutter jetzt. »Giulietta, wo stehst du denn?«
    »Bei
Libertango
, Mama. Über den Namen der Gruppentänzer.«
    Ihr Vater drehte sich um und wollte nach dem Programmheft greifen. Giulietta stieg noch eine Stufe höher. In diesem Augenblick las ihre Mutter den Namen und schaute verständnislos zu ihr hinauf.
    »Aber hier steht jemand anderes, Giulietta. Die haben deinen Namen verwechselt. Hier steht

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