Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Studio beobachtet hatte. Diese Frau tanzte Damiáns
sacada
! Giulietta hob den Kopf und fixierte sie. Doch sie wich gerade zur Seite aus und bewegte sich seitlich an ihrem Partner vorbei, so dass Giulietta ihr Gesicht nicht sehen konnte. Dann schob sich ein weiteres Tanzpaar dazwischen, und als sie endlich einen halbwegs unverstellten Blick auf das Paar erhaschte, war die Entfernung schon recht groß.
Sie war ihr bisher nicht aufgefallen. Doch der Schritt, den sie eben getanzt hatte, machte sie nun für Giulietta zum einzigen hellen Punkt in einem Meer von Düsternis. Sie reckte den Hals, versuchte im Gewimmel der hin und her wogenden Körper die Spur dieser Frau nicht zu verlieren und fieberte dem Augenblick entgegen, da sie wieder auf ihrer Höhe sein würde. Kurzzeitig vermeinte sie, ihre Gestalt am äußersten Ende der Tanzfläche gesehen zu haben, doch zu viele Paare verstellten die Sicht. Kurz darauf war sie auf Höhe der Bühne erschienen. Ihr Partner hatte Giulietta den Rücken gekehrt und verharrte gerade bewegungslos zwischen zwei anderen Paaren, die ihm den Weg versperrten. Und in dieser kurzen Pause schaute die Frau hoch und fixierte ihren Partner. Giulietta sah ein sonnengebräuntes Gesicht mit hellen Augen. Die Haare der Frau waren kurz und strohblond. Ihre Mundpartie war durch die Schulter des Mannes verdeckt. Aber dafür sah sie ihre linke Hand auf der Schulter des Mannes: eine feingliedrige Hand, mit zwei großen Ringen am Ring- und Mittelfinger. Jetzt fasste sie ihren Tanzpartner enger, ließ ihre Finger auf seinen Nacken wandern und schloss die Augen. Die beiden bewegten sich noch immer nicht vom Fleck, schienen aber seltsamerweise die Einzigen zu sein, die mit der Musik tanzten. Außer einem sanften Wiegen verharrten sie in völliger Ruhe. Und dann glitten sie plötzlich wieder in eine raumgreifende Bewegung, reagierten auf das anschwellende Schnauben des Bandoneons, das aus den Lautsprechern fauchte. Nach wenigen Augenblicken waren sie schon wieder an ihr vorbei. Doch jetzt hatte Giulietta einen guten Blick auf die beiden erhaschen können. Die Frau hielt ihre Augen geschlossen. Ihr Oberkörper war fest mit der Brust ihres Tanzpartners verschmolzen, während ihr Unterkörper und ihre Beine fast übernatürlich weit von den seinen entfernt waren, so dass der Gesamteindruck des Paares an ein umgedrehtes »V« erinnerte. Sie waren ein Körper mit vier Beinen. Nur manchmal, während kleiner Pausen, wenn der Tanzfluss durch das Gedrängel ins Stocken geriet, hob die Frau ein wenig ihren linken Arm, streckte ihn wie zum Atemholen in den Raum über der Schulter ihres Tanzpartners hinaus und ließ ihn dann sanft wieder in die Umarmung zurückgleiten. Die Geste hatte etwas Aktives und Passives zugleich, wie ein selbstverursachtes Fallen. Was immer es war, die Frau genoss es in vollen Zügen.
Sie trug helle Leinenhosen und eine dünne weiße Bluse, unter der sich die Umrisse ihres BH s abzeichneten. Ihr Körper war schlank und mädchenhaft. Ihre Bewegungen waren indessen sehr genau und gut kontrolliert. Aber sie tanzte weder den Stil der argentinischen Tänzerinnen, die Giulietta in Berlin gesehen hatte, noch schien sie eine klassische Ausbildung gehabt zu haben. Sie tanzte erheblich besser als die meisten hier, doch eine Tänzerin war sie mit Sicherheit nicht. Aber all das war völlig gleichgültig. Sie musste bei Damián Unterricht genommen haben. Oder zumindest war dies sehr wahrscheinlich, es sei denn, Damiáns eigentümliche Schrittkombinationen hatten schon das Stadium erreicht, wo sie ihrerseits kopiert und weitergegeben wurden.
Giulietta beschloss, wenigstens diesen einen Versuch zu wagen. Hoffentlich konnte die Frau etwas Englisch oder Französisch. Sie würde sie auf diesen Schritt hin ansprechen. Das war wenigstens ein halbwegs natürlicher Anknüpfungspunkt.
Indessen kam ihr diesmal der Zufall zu Hilfe. Als die Pausenmelodie erklang, standen die beiden keine drei Meter von ihrem Tisch entfernt. Sie lösten sich aus ihrer Umarmung und wechselten ein paar Worte. Der Mann verbeugte sich leicht, schien sich für den Tanz zu bedanken und führte die Frau an den Rand der Tanzfläche direkt in die Nähe von Giuliettas Tisch. Sie hörte noch ein »… enjoyed it very much, thank you« aus ihrem Mund, das der Mann mit einem Lächeln erwiderte, bevor er sich umdrehte und in entgegengesetzter Richtung davonging. Offenbar gehörten die beiden überhaupt nicht zusammen. Was für ein seltsamer Tanz dies
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