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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Standbein benutzte, was dazu führte, dass sie durch die Initiative des Mannes fast stürzte. Mit einigem Glück gelang es den beiden, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Lindsey beugte sich zu ihr hin, zog ihre linke Augenbraue hoch und deutete mit den Augen auf das davontanzende Pärchen. Dann drückte sie ihre Zigarette aus, blies dabei den Rauch mit leicht abgewandtem Kopf in den Raum hinaus und griff schließlich nach einem halb vollen Glas Wasser vor sich auf dem Tisch, das sie mit zwei Zügen leerte.
    »Ich komme fast nie hierher«, sagte sie. »Heute ist eine Ausnahme, weil ich um die Ecke eine Verabredung hatte, die nicht geklappt hat.«
    Giulietta erinnerte sich an Damiáns Theorie über Verabredungen.
    »Das Tanzniveau ist nicht gut. Wenn du einen Kurs machen möchtest, dann bloß nicht hier.«
    Lindseys Französisch war nicht so ganz einfach zu verstehen. Außerdem erschwerte der Umgebungslärm die Verständigung. Giulietta fragte sie, welche Lehrer und Lokale sie denn empfehlen könnte, verstand jedoch die Antwort nicht.
    »… Almagro«, wiederholte Lindsey dann, indem sie sich über den Tisch beugte und ihren Mund gegen den Lärm von der Tanzfläche abschirmte. »Heute Abend solltest du ins Almagro gehen, wenn du Zeit hast.«
    »Almagro?«, wiederholte Giulietta. Sie holte die Zeitschrift aus ihrer Handtasche und suchte die Seite mit den Adressen. Lindsey beugte sich mit ihr über die Seiten.
    »Hier«, sagte sie, und zeigte mit dem Finger auf die Spalte unter Dienstag, »Almagro. Das ist in der Calle Medrano, 522.«
    Giulietta überflog die restlichen Namen in der gleichen Spalte. Es standen noch sieben weitere Lokale dort. Eins war sogar unterstrichen.
    »Und was ist mit den anderen Adressen?«, fragte sie.
    »Dort ist wohl auch irgendetwas, aber am Dienstag geht man ins Almagro, das ist einfach so. Das weiß jeder. Jedenfalls zur Zeit.«
    »Und was ist mit Mittwoch und Donnerstag?«
    »Mittwoch
La Viruta
. Donnerstag
Niño Bien
«, kam die Antwort. Lindsey kramte einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und begann, die entsprechenden Lokale in Giuliettas Zeitschrift einzukringeln. »Vor zehn Jahren musste man die Milongas noch mit der Lupe suchen«, sagte sie währenddessen. »Als ich hier ankam, wusste kein Mensch, wo sich die Leute zum Tanzen trafen. Das war damals ein versprengter kleiner Haufen von Leuten, die zur Zeit von Perón jung gewesen sind. Die trafen sich in irgendwelchen Hinterhöfen weiß Gott wo. Seit ein paar Jahren ist es umgekehrt. Jetzt gibt es von allem zu viel. Zu viele junge Leute. Zu viele Touristen. Die Szene ist regelrecht explodiert. Jede Woche macht ein neues Lokal auf, und jeder arbeitslose Tänzer mit einem argentinischen Pass verkauft sich als Tangolehrer. Kein Mensch findet sich mehr zurecht.«
    Giulietta stutzte. »Zu viele junge Leute?«
    Lindsey korrigierte sich. »Hier nicht. Hier tanzen die Fossile.«
    »Und du bist schon zehn Jahre hier?«
    »Nein, nicht am Stück. Aber ich bin vor zehn Jahren zum ersten Mal für ein paar Monate hier gewesen.«
    »Und warum?«
    »Um Tango zu lernen.«
    »Du bist also Tänzerin?«
    »Nein.« Sie lächelte und zog bedauernd die Schultern hoch. »Leider nicht. Ich bin Soziologin. Ich unterrichte an der Universität von Montreal. Ich bin für ein Forschungsjahr hier.«
    »Und was erforschst du?«
    Sie wies auf die Tanzfläche. »Tango.«
    Die Antwort war ebenso einfach wie verblüffend. Giulietta schwieg einen Augenblick lang und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Lindsey fuhr inzwischen damit fort, die Eintragungen in dieser Zeitschrift einzukringeln. Eine Soziologieprofessorin, die Tango studierte? Die Verbindung erschien ihr völlig abwegig. Aber die Frau war ihr sympathisch.
    Die Kanadierin schob Giulietta das Heft hin und steckte ihren Kuli wieder ein. »Am Mittwoch gehst du am besten ins
La Viruta
. Ich weiß nicht, wer dort gerade unterrichtet, aber im Allgemeinen sind es gute Leute. Die
práctica
ist um neun. Danach ist
milonga

    »Und was heißt das Sternchen neben dem Namen?«
    »Steinboden, also keine Schuhe mit Ledersohlen mitbringen. Donnerstag gehst du am besten erst in die
Galería del Tango
. Die steht hier nicht drin, aber ich habe dir die Adresse unten an den Rand geschrieben. Donnerstagabends gehen zur Zeit alle ins
Niño Bien
. Aber nicht vor zwei Uhr morgens, da ist es zu voll.«
    Giulietta versuchte sich die Einzelheiten zu merken, gab es jedoch bald auf angesichts der Vielzahl von Hinweisen, die Lindsey

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