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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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schaute er sie an, als bereute er das Gespräch mit ihr. Was war nur mit diesem Mann los? Erst war er distanziert und abweisend gewesen. Dann hatte er plötzlich Vertrauen zu ihr gefasst und war fast ins andere Extrem verfallen. Und jetzt sah er auf einmal sorgenvoll aus, bekümmert.
    Mit einem Mal senkte er seine Stimme und sagte: »Frau Battin. Schwören Sie mir, dass Sie mir die Wahrheit gesagt haben? Warum suchen Sie Damián?«
    Giulietta wurde blass. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Ihr Herz begann zu klopfen. Was fiel diesem Mann bloß ein? Nein, sie hatte nicht die Wahrheit gesagt, aber sie hatte auch nicht gelogen. Sie suchte Damián aus persönlichen Gründen, die so kompliziert zu erklären waren, dass ihre kleine Notlüge nichts Verwerfliches an sich hatte. Doch der Ton, den die Stimme ihres Gesprächspartners angenommen hatte, war auf einmal bedrohlich, als verdächtige er sie irgendwelcher finsterer Pläne. Sie riss sich zusammen, setzte das unschuldigste Mädchenlächeln auf, zu dem sie im Stande war, errötete sogar ein wenig und sagte: »Weil mir der Junge gefiel, der mir damals diese Briefe geschrieben hat. Aber ich muss jetzt wirklich gehen.«
    Sie erhob sich. Auch Ortmann stand auf. Er sah jetzt noch zerknirschter aus als zuvor. »Bitte warten Sie noch einen Augenblick.«
    Seine Stimme war nun gerade noch ein Hauch. Er ging sogar zur Tür, schaute kurz hinaus, ob niemand in der Nähe war. Dann drehte er sich wieder zu ihr um und sagte: »Damiáns Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht besonders gut. Fernando Alsina ist ein sehr jähzorniger Mensch. Als Damián damals diese Pubertätsprobleme hatte, hat sein Vater große Fehler gemacht. Ich glaube, er ist Schuld daran, dass Damián sich so extrem verhalten hat. Ich kann Ihnen also nicht sagen, wie die Familie auf Ihren Anruf reagieren wird. Soviel ich weiß, haben sie den Kontakt zu Damián sogar abgebrochen. Nur damit Sie vorbereitet sind …«
    Giulietta nickte und bewegte sich langsam zur Tür. Sie wollte raus hier. Weg von diesem Mann, der ihr in seiner sich wandelnden Art immer unheimlicher wurde. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Aber sie verspürte keinerlei Lust, herauszufinden, was es war. Er konnte ihr nicht weiterhelfen. Damiáns Familie interessierte sie nicht. Sie würde ohnehin nicht dort anrufen. Schon der Besuch bei diesem Lehrer war Irrsinn gewesen. Sie würde in den Tangokreisen herumfragen, und wenn sie keinen direkten Kontakt zu im aufnehmen konnte, am Samstag zurückfliegen. Sie hatte nicht genügend Kraft für diese Situation, diese Stadt, diese eigenartigen Menschen.
    »Ich danke Ihnen für alles«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich muss nun leider wirklich ins Theater zurück.«
    »Ach ja, natürlich. Entschuldigen Sie.«
    Das wurde ja immer besser. Jetzt entschuldigte er sich auch noch. Ortmann begleitete sie durch das Lehrerzimmer bis zur Tür, blieb dann jedoch nach einem kurzen Händeschütteln auf der Schwelle stehen und sah zu, wie Giulietta die Treppe hinabging. Auf halber Strecke drehte sie sich noch einmal um, betrachtete die hagere Gestalt dort und winkte kurz. Der Mann hob leicht die linke Hand zum Gruß. Er schaute ihr hinterher wie einem Geist, der sich in Luft auflöst.
    Giulietta kämpfte mit den Tränen. Warum war hier alles so seltsam? So eigenartig? Jetzt war sie wieder allein. Endlose Stunden lagen vor ihr, ohne konkrete Beschäftigung, ohne Ziel, ohne einen Menschen, mit dem sie sprechen konnte. Sie lief schnell durch die Eingangshalle, ohne einen weiteren Blick auf die prächtige Ausstattung zu werfen. Draußen blendete sie der helle Nachmittag, und die Luft schlug ihr wie ein heißes Tuch ins Gesicht. Der Vorplatz war nun verödet. Nur die allgegenwärtigen Taxis schlichen auf der Calle Bolívar vorbei.
    Sie wusste schlechterdings nicht, wohin sie gehen sollte. Sie schlenderte ein paar Schritte die Straße hinauf, überquerte die Calle Yrigoyen und fand sich plötzlich in einem hübschen, an die Kolonialzeit erinnernden Innenhof eines der früheren Regierungsgebäude wieder. Es war der erste Ort in dieser Stadt, der ein wenig dem pittoresken Stereotyp einer lateinamerikanischen Atmosphäre entsprach: weiß gestrichene Wände, Bänke aus dunklem Holz, Blumen und üppige Pflanzen, eine Kapelle. Giulietta setzte sich auf eine der Bänke und blickte ratlos die hohen Mauern hinauf, die den Hof umgrenzten.
    Es war alles umsonst. Sie hatte sich geirrt. Damián. El loco. Der Verrückte. Ein

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