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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Tangotänzer aus solch einer Familie? Er war aus unmöglichen Teilen zusammengesetzt, dieser Mann. Sie musste an Lutz denken, an seine Bemerkungen über Damiáns Besonderheiten und die Anfeindungen, denen er in Buenos Aires ausgesetzt war. Offenbar stammte Damián aus der Oberschicht. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen, den jungen, hoch intelligenten Streber, der Mathematikwettbewerbe gewinnt. Das passte überhaupt nicht zusammen. Aber gut, Menschen änderten sich. Doch Damián hatte offenbar eine solch extreme Wandlung durchgemacht, dass sogar seine Eltern sich von ihm distanziert hatten. War so etwas überhaupt vorstellbar? Hatte er womöglich eine gestörte Persönlichkeit? Warum hatte sie sich neben ihm so wunderbar gefühlt, so eine unbegreiflich tiefe Verbindung zu ihm gespürt? Weil du naiv bist, sagte eine Stimme in ihr. Weil du nie im Leben in dieses Theater in den Hackeschen Höfen hättest gehen sollen. Weil du einem dahergelaufenen Spinner mehr glaubst als deinem eigenen Vater.
    Sie sprang auf, um diese Stimme in ihrem Kopf auszuschalten. Wenigstens eine Woche, rief sie innerlich dagegen an. Wenigstens eine Woche bleibe ich und suche ihn. Ich will ihm in die Augen sehen. Ich muss eine Antwort haben. Ein heulender Hupton ließ sie erstarren. Zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht war eine rote Mauer aus dem Boden gewachsen. Sie schrak zurück und starrte bestürzt auf den Autobus, in den sie fast hineingelaufen wäre. Der Fahrer gestikulierte wütend mit den Händen. Einige Gesichter hinter den Scheiben schauten auf sie herab, müde und verwundert.

8
    D er erste Stock der Confitería Ideal wirkte noch schmuddeliger als das etwas heruntergekommene Erdgeschoss, das Giulietta zwei Tage zuvor erlebt hatte. Zwar war auch hier oben die alte Pracht noch deutlich zu erkennen, die Säulen aus rotem Marmor, die Art-déco-Leuchter, die geschnitzte Holzdecke – aber noch deutlicher waren die Zeichen des Verfalls: die gelbe Nikotinschicht auf den Wänden, die verstaubten Querverstrebungen der Stuhlbeine, die durchgewetzten blassrosa Tischdecken, teilweise mit Brandlöchern und ausgefransten Säumen. An den Wänden schlängelten sich weithin sichtbar Gasleitungen auf Geräte zu, die wie geborstene Röhrenradios aussahen. Tatsächlich handelte es sich um Glühstrümpfe, die vor grau schimmernde Blechreflektoren montiert waren und im Winter offenbar als Heizvorrichtung dienen sollten. Dagegen wirkten die wagenradgroßen Gitterventilatoren mit dem Fabrikationsdatum 1937 geradezu modern. Emailleschildchen an den Wänden wiesen darauf hin, dass man aus Hygienegründen nicht auf den Boden spucken möge, eine Mahnung, die sich glücklicherweise mit den Jahren erübrigt zu haben schien.
    Über dem ganzen Tanznachmittag schwebte eine morbide Stimmung. Der Gesamteindruck – eine Mischung aus Altersheim und Ball der einsamen Herzen – war ernüchternd, wenn nicht niederschmetternd. Die Tanzpaare stolperten bemüht dem komplizierten Rhythmus hinterher, der aus den Lautsprechern schepperte. Sie hielten sich fest umschlungen, um bei den schwierigen, verwackelten Figuren nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    Giulietta hatte bereits vier Tanzeinladungen abgelehnt und sah nun mit Schrecken einen älteren Herrn mit schiefsitzendem Toupet auf sich zukommen, der unbeeindruckt von den Misserfolgen seiner Vorgänger versuchte, sie auf die Tanzfläche zu bewegen. Sie verneinte freundlich, aber bestimmt, schaute vor sich auf den Tisch und nippte an ihrer Cola. Hatte Damián nicht gesagt, in Argentinien wäre die Aufforderung zum Tanz von einem subtilen Mienenspiel und verborgenen Blickwechseln begleitet, die einem dieses peinliche Körbegeben ersparen sollte? Wo sollte sie eigentlich noch hinschauen, um zu signalisieren, dass sie nicht zu tanzen wünschte? Sie konnte es ja auch gar nicht. Sie beschloss, innerhalb der nächsten fünf Minuten das Weite zu suchen. Es wäre der deprimierende Abschluss eines weiteren Tages in dieser Stadt, der sie keinen Schritt vorangebracht hatte.
    Wie sollte sie nur herausfinden, ob es hier jemanden gab, der Damián kannte? Vor ihr im Saal tanzten vermutlich dreißig oder vierzig Paare. War dies eine repräsentative Auswahl der Tangopopulation von Buenos Aires oder war sie hier in einem entfernten Randbezirk dieses unbekannten Kosmos gestrandet? In Berlin hatte sie den Eindruck gehabt, dass es ein Tanz war, der viele junge Anhänger hatte, aber offenbar war dies die Ausnahme. Bemüht, suchende

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