Drei Minuten mit der Wirklichkeit
doch war. Solch eine Intimität zwischen Fremden. Die Frau ging an Giuliettas Tisch vorüber, und ihre Blicke trafen sich kurz. Da erhob sie sich und sagte schnell: »Excuse me, can I ask you something?«
Die Frau blieb stehen. »Sure. Why not.«
Ihr Englisch klang perfekt. Aber es war kein britisches Englisch. Und amerikanisch hörte es sich auch nicht an. Giulietta kratzte ihre Englischkenntnisse zusammen und versuchte zu erklären, was sie wissen wollte.
»… I’ve watched you dance … you have a very nice style.«
»Thank you«, sagte die Frau und errötete leicht.
»Ich tanze selbst noch nicht«, fuhr Giulietta fort, »aber ich möchte es bald lernen. Es gibt so viele Lehrer. Wenn ich eine Tänzerin sehe, deren Stil mir gefällt, frage ich immer, bei wem sie Unterricht genommen hat.«
Das Englisch war etwas holperig, aber im Großen und Ganzen war die Botschaft wohl angekommen. Die Frau schaute sie erstaunt an. Dann sagte sie: »Danke für das Kompliment. Woher kommst du?«
»Aus Deutschland.«
»Aha.«
Giulietta spürte, dass sie gemustert wurde. War ihr Anliegen seltsam? Sie standen noch immer, die Tanzfläche leerte sich zusehends und allerorten flammten Feuerzeuge auf.
»Zum ersten Mal in Buenos Aires?«, fragte die Frau.
Giulietta bejahte.
Der Mann mit dem Toupet, der sich zuvor schon Giulietta genähert hatte, kam herangeschlichen und sagte etwas auf Spanisch. Die Frau schüttelte den Kopf und antwortete in der gleichen Sprache. Er verzog enttäuscht das Gesicht und trottete weiter.
»Ich muss unbedingt eine Zigarette rauchen. Komm doch an unseren Tisch, dann unterhalten wir uns ein wenig.«
Unseren Tisch?
»Ah gut, danke. Ich will mich nur kurz frisch machen«, erwiderte sie.
»Wir sitzen dort hinten rechts.« Sie deutete die Stuhlreihe, die sich direkt an das Revier der männlichen Stammgäste anschloss. »Bis gleich. Wie heißt du?«
Giulietta nannte ihren Namen. »And you?«
»Lindsey.«
»Aus Amerika?«
»Kanada. Montreal.«
»Dann sprechen Sie Französisch«, sagte Giulietta erleichtert und wechselte ins Französische, wobei sie das unbestimmte
you
durch die Höflichkeitsform ersetzte.
»Oui, bien sûr.«
»Das ist sehr viel einfacher für mich.«
»Für mich auch. Aber nur, wenn du mich nicht siezt. A tout de suite, Giulietta.«
Der Klang ihres Namens aus einem fremden Mund tat ihr wohl. Lindsey ging davon, und nicht wenige Blicke folgten ihr.
Giulietta brachte ihr Haar in Ordnung. Sie wusch sich die Hände, benetzte sich das Gesicht mit Wasser, trocknete sich vorsichtig ab und reparierte danach ein wenig ihr Make-up. Gleichzeitig versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Doch vor allem wich sie dem Blick der Person vor ihr im Spiegel aus, die ihr lauter Fragen zu stellen schien. Es waren immer die gleichen Fragen. Was tust du hier eigentlich? Kein Mann ist so etwas wert! Und irgendetwas in ihr gab immer die gleiche Antwort: Ich kann mich nicht so geirrt haben.
9
L indsey winkte ihr aus der Ferne zu, als sie in den Ballsaal zurückkehrte, und Giulietta steuerte direkt auf ihren Tisch zu.
»Ich hoffe, ich habe niemanden vertrieben?«, fragte sie, bevor sie sich setzte, mit einem Blick auf ein zweites Päckchen Zigaretten nebst Feuerzeug, das neben dem Aschenbecher lag.
»Rachel tanzt«, erwiderte Lindsey, ohne zu erklären, wer Rachel war. »Rauchst du?«
Sie hielt ihr die Schachtel hin.
»Nein, danke.«
Giulietta nahm Platz.
»Bist du ganz allein hier?«, fragte Lindsey.
Sie hatte mit der Frage gerechnet und beschlossen, bei ihrer Ballett-Version zu bleiben. Wenn man schon log, so war es einfacher, die gleiche Geschichte mehrfach zu benutzen.
»Ich bin Ballett-Tänzerin und wegen einer Meisterklasse hier. Aber ich habe in Berlin schon Tango gesehen und war neugierig auf das Original.«
»Original?«
Lindsey verzog die Mundwinkel. »Hier? In der Confitería?«
Die Sache mit der Meisterklasse schien sie viel weniger zu verwundern als Giuliettas Annahme, sie habe hier echten Tango gesehen.
»Eher originell als original würde ich sagen.«
Giulietta wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Wie zur Bestätigung vollführte ein vorübertanzendes Paar eine Drehung, die aussah, als versuche der Mann die Rückenwirbel seiner Partnerin auszurenken. Der Mann hatte den linken Fuß der Frau gestoppt und wollte diesen nun mit seinem rechten Fuß um die Achse der Frau herumschieben, was aber nicht funktionierte, da die Frau offenbar das ausgestreckte Bein als
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