Drei Minuten mit der Wirklichkeit
herunterspulte wie eine komplizierte Wegbeschreibung. Irgendwann nannte sie ein paar Namen von bekannten Tänzern, die offenbar an bestimmten Tagen an bestimmten Orten auftauchten, was wiederum eine wohl gehütete Insiderinformation zu sein schien. Je länger sie Lindseys Ausführungen folgte, desto mehr bekam Giulietta den Eindruck, dass sie am äußersten Rand einer unsichtbaren Parallelwelt angekommen war. Die Bewegung der Tangotänzer durch die unterschiedlichen Tanzlokalitäten von Buenos Aires glich der komplexen Wanderung von rätselhaften, unerforschten Nachttieren in einem Urwald. Nach einem geheimnisvollen Gesetz, das niemandem so recht bekannt zu sein schien, bildeten sich kurzzeitig Muster heraus, die jedoch jederzeit wieder verschwinden konnten. Es konnte offenbar viele Gründe dafür geben, dass bestimmte Grüppchen oder einzelne Tänzerinnen und Tänzer von heute auf morgen hier oder dort auftauchten. Ein Streit um eine Frau. Tänzerische oder persönliche Rivalitäten, was so ziemlich auf das Gleiche herauskam. Ein berühmter Tango-Ansager oder ein beliebtes Orchester, das von einem anderen Lokal abgeworben wurde, vermochte eine ganze Anhängerschar umzusiedeln. Und natürlich gab es auch immer die Avantgardisten, die stets nur dorthin gingen, wo sonst niemand war, bis sich auch dies zu einem Trend ausgeweitet hatte. Es waren schwer lesbare Strömungen, Signale jenseits der Wahrnehmung von Uneingeweihten.
»Das ist zwar ziemlich kompliziert, aber so ist es nun mal«, schloss Lindsey ihre Ausführungen. »Ich habe damals Wochen gebraucht, um das herauszufinden. Am Montag bricht das
Re-Fa-Si
aus allen Nähten, am Dienstag treibt sich dort keine Maus herum. Im Club
Gricel
musst du wissen, dass am Freitag die alten Paare, am Samstag die jungen und am Sonntag meist überhaupt niemand auftaucht, es sei denn, Omar richtet eine Geburtstagsparty aus. Schau, hier,
La Argentina
,
Salon Sur
,
Italia Unita
,
Salon Canning …
und die fünfzig oder sechzig anderen, die haben alle ihre ganz besondere Zeit, zu der sich ihre ganz besondere Klientel versammelt.«
»Omar?«, fragte Giulietta. »Ist das ein Lehrer?«
»Bei den Lehrern wird es erst recht schwierig. Ja, Omar unterrichtet. Wie zahllose andere auch.«
Jetzt konnte sie endlich ihrer eigentlichen Frage näher kommen. »Und bei wem hast du Unterricht genommen?«
Die Namen, die Lindsey nannte, sagten ihr nichts. Aber jetzt hielt sie es nicht länger aus. Sie musste die Frage einfach loswerden.
»In Berlin habe ich eine Aufführung von einem jungen Tänzer gesehen, der mir sehr gut gefallen hat. Ein gewisser Damián Alsina.«
»Ah. El Loco. Das ist nicht unbedingt etwas für Anfänger. Aber er ist hervorragend. Bis vor kurzem hat er mit Nieves unterrichtet. Aber die beiden haben sich getrennt.«
Nieves! Das war eine Sackgasse. Ihre Telefonnummer stand in diesem Heft, aber selbst wenn sie schon zurückgekehrt war, würde ihr das nicht weiterhelfen. Sie konnte unmöglich bei Nieves anrufen und fragen, wo sie Damián finden könnte.
»Hast du bei ihm Unterricht gehabt?«
»Ja. Letztes Jahr.«
Natürlich hatte sie bei ihm gelernt. Sonst hätte sie diesen Schritt nicht getanzt.
»Ich habe gehört, er sei ziemlich gut. Weißt du, wo er unterrichtet?«
»In der Casa Azúl. Im Zentrum. Aber zur Zeit ist er in Europa. Er kommt erst kurz vor Weihnachten zurück.«
Casa Azúl. Giulietta sagte sich den Namen stumm dreimal vor, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht vergessen würde. Dann wurden sie plötzlich unterbrochen. Giulietta hatte fragen wollen, warum Damián hier von allen als »el loco« bezeichnet wurde. Doch die Musik setzte aus, die Pausenmelodie klimperte aus den Lautsprechern, und auf einmal saß Rachel am Tisch, eine etwas füllige, dunkelblonde, stark schwitzende und nach Luft schnappende Amerikanerin aus Ohio, die nach einer kurzen Begrüßung lang und breit darlegen musste, welche Meriten und Defekte ihr letzter Tanzpartner gehabt hatte. Giulietta hörte schweigend dem englisch geführten Gespräch zwischen Lindsey und Rachel zu, das mehr und mehr zu einer Fachsimpelei über Tangothemen geriet und für Giulietta weitgehend unverständlich war. Zu allem Überfluss stand Lindsey plötzlich auch noch auf und begab sich mit einem älteren Herrn, den sie offenbar kannte, auf die Tanzfläche, so dass Rachel ihre Aufmerksamkeit samt Zigarettenrauch Giulietta zuwandte. Die Konversation erstarb indessen bald, da Giulietta keine interessanten
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