Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Männerblicke zu vermeiden, musterte sie verstohlen die wenigen Besucher, die in ihrem Alter waren. Einige Tische entfernt, direkt neben der Treppe, die zur Bühne hinaufführte, saßen zwei junge Frauen. Sie hatten beide noch nicht getanzt. Giulietta vermutete, dass sie gleichfalls Touristinnen sein mussten. Gleiches galt wohl für einen jungen Mann, der zwei Tische hinter den beiden Frauen saß. Er war ohne ersichtliche Begleitung. Giulietta hatte ihn bereits tanzen sehen. Vielleicht gab es ja rothaarige Argentinier mit Sommersprossen, aber sie hätte eine Wette darauf abgeschlossen, dass der Mann Amerikaner war. Offenbar tanzte er schon eine Weile, denn er bewegte sich recht sicher durch das Gewimmel und hatte außerdem die etwas verhaltene, unbestimmte Art der anderen Besucher verinnerlicht. Viele Blicke gingen hin und her, aber zugleich signalisierten nicht wenige Besucher ihre Tanzwünsche unverschlüsselt und direkt. Entweder waren die Sitten und Gebräuche etwas in Fluss geraten, oder dieses Lokal war nicht repräsentativ.
Giulietta blätterte in einer Zeitschrift herum, die sie am Eingang bekommen hatte.
Tangauta
stand auf dem Deckblatt. Offenbar eine Art Reklameheft für Tangolokale. Die Artikel verstand sie nicht, aber die vielen Fotos und Anzeigen sprachen für sich. Wo immer sie hier gestrandet war: es war offensichtlich nur die erste Landzunge eines ganzen Kontinents. Sie stieß auf allerlei Werbeanzeigen anderer Lokale. Während sie hier in der Confitería Ideal saß, konkurrierten zugleich sechs weitere Tanzstätten um die Gunst des Publikums. Als sie umblätterte, fand sie eine Tabelle, welche die laufenden
clases
und
practicas
verzeichnete, was wohl Kurse und Übungstermine sein sollten. Eine weitere Seite listete sämtliche
Milongas
auf, die abendlichen Tanztermine, die nicht weniger zahlreich waren. Giulietta errechnete mit Staunen, dass es zu jedem Zeitpunkt der Woche etwa ein Dutzend unterschiedliche Möglichkeiten gab, sich in irgendeiner Weise mit Tango zu beschäftigen. Richtung Wochenende stieg diese Rate auf das Doppelte an. Sie fand eine Liste der Lokale, die über vier Spalten ging. Das Gleiche galt für die Auflistung der Lehrer. Wenige Sekunden später gefror ihr Blick auf einer Eintragung. Vor einem Lokal names
Cátulo
stand:
Nieves Cabral
. Keine Adresse, aber eine Telefonnummer.
On parle français.
Damián war nirgends erwähnt.
Als sie wieder aufschaute, sah sie plötzlich ein Gesicht, das sie kannte. Der Mann stand links neben dem Eingang. Trotz der Entfernung spürte sie, dass er sie beobachtet hatte. Diese heftig blinzelnden Augen. Es war der Mann aus dem Autobus. Es musste ein Zufall sein. Vermutlich hatte er sie auch wieder erkannt und sich gewundert, dass sie in diesem Lokal verkehrte. Oder hatte er das Gespräch belauscht, das sie mit dem Mädchen in der Busstation geführt hatte? Der Name dieses Cafés war mehrmals gefallen. Jetzt drehte er sich um und lief schnurgerade zum Ausgang. Vielleicht war er einer dieser Männer, die Frauen verfolgen, weil sie nicht den Mut haben, sie anzusprechen? Sie verwarf den Gedanken sogleich. Sie begann wohl schon Gespenster zu sehen.
In dieses Lokal käme sie ohnehin nicht mehr. Ihr ganzer Plan war Unsinn gewesen. Sollte sie von Tisch zu Tisch gehen und nach Damián fragen? Unmöglich. Sie griff nach ihrer Zeitschrift, legte drei Pesos neben den Kassenbon auf ihren Tisch und wartete auf das Ende der Tanzrunde. Sie würde heute Nacht Lutz anrufen. Warum hatte sie daran noch überhaupt nicht gedacht? Vielleicht kannte er Damiáns Adresse? Oder zumindest jemanden, der ihr helfen könnte, sich hier durchzufinden. Es konnte doch einfach nicht wahr sein, dass es ihr nicht gelingen sollte, ihn zu treffen!
Ihre Stimmung verdüsterte sich zunehmend, während die Tanzpaare an ihr vorbeischwebten. Sie war unaufmerksam, lauschte kaum der Musik, wartete auf das Ende dieser Runde, folgte teilnahmslos den Bewegungen der Beine auf dem Parkettausschnitt in ihrem Blickfeld und überlegte bereits, was sie mit dem Rest dieses Tages nur anfangen sollte. Vielleicht ins Kino gehen oder einen weiteren Mittagsschlaf einlegen, um dieser Hitze zu entkommen?
Und dann war ihr etwas aufgefallen. Keine zwei Meter von ihrem Tisch entfernt hatte eine Frau ihren Partner mit einer schnellen Bewegung mitten in der Drehung gestoppt und dann sein Bein weggehebelt. Das war Damiáns Schritt! Die Schlusssequenz aus der abgewandelten Form von
Primera Junta
, die sie in Claudias
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