Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Werk. Die innere Logik.«
»Aber die Musik ist nicht in der Partitur enthalten«, hielt Giulietta ihm entgegen. Sie fand die Aufführungspraxis viel wichtiger als die Partituren. Jede Generation müsse sich ihr Repertoire neu erfinden, auch wenn man Bibliotheken mit aufgeschriebenen Tänzen füllen würde. Der Impuls für Tanz käme aus dem Leben, dem Erleben, nicht aus Partituren. Literatur könne man außerdem mit Musik und Tanz nicht vergleichen. Wieso?, erwiderte er. Tanz sei schließlich auch eine Sprache, eine abstrakte Symbolsprache. Nein, meinte Giulietta. Tanz sei für sie eher eine Ausdrucksform, eine Art Musik des Körpers.
»Aber Musik ist doch auch abstrakt. Reine Mathematik. Denke nur an Chopins Partituren. Das Druckmuster der Noten ist fast noch unglaublicher als der Klang, den sie hervorrufen, wenn man sie spielt.«
»Das mag ja sein. Aber ich höre und tanze keine Mathematik, sondern Musik.«
»Weil du sie nicht hören willst.«
»Weil ich
was
nicht hören will?«
»Die Mathematik. Ich meine: die Beziehungen zwischen den Wertigkeiten, den Harmonien. Alles ist Mathematik. Wenn die Kräfte, die das Weltall steuern, Töne erzeugen könnten, würden wir das als Musik wahrnehmen. Bestimmt. Schau dir doch einmal eine Fuge an.«
Sie lachte ihn aus. »Eben. Ich schaue nicht, sondern ich höre. Bei einer Fuge denke ich an Wasser oder Wind oder Regen oder weiß der Himmel woran, aber sicher nicht an Quarten und Quinten. Und sollte ich anfangen, an Mathematik zu denken, dann schalte ich sofort die Musik ab.«
Er runzelte die Stirn und zog sie dann zu sich auf die Couch. »So meine ich das doch nicht«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»So, wie meinst du es denn«, hauchte sie zurück und knabberte an seinem Ohrläppchen. Er kicherte, lehnte sich zurück und bettete ihren Kopf auf seine angewinkelten Knie. Dann küsste er sie und sagte: »Meine Tangos soll man lesen können wie eine Sprache.«
»Was für eine Sprache?«
»Meine Sprache. Nicht so ausgefeilt wie das Benesh-System, aber was ich zu sagen habe, kann man auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch entziffern, wenn man will.«
Sie richtete sich auf, legte ihre Stirn gegen die seine und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. »Ich möchte dich aber viel lieber jetzt gleich entziffern«, sagte sie leise und fuhr mit ihrer Hand durch die entstandene Öffnung, »und nicht erst in fünfzig Jahren.«
Sie knöpfte sein Hemd auf, streifte es ihm ab und küsste seine Schulter.
»Also, was steht in deinen Tangos, hmm?«
»Ich liebe Giulietta.«
»Nein, ich meine wirklich.«
»Ich schreibe immer nur deinen Namen aufs Parkett. Schau …«
Er stand auf, machte ein paar Schritte. Dann hielt er inne und sagte: »Ein G und ein I wie g
iro a la
i
zquierda
«, und vollzog eine Linksdrehung. Giulietta kauerte auf der Couch und schaute ihm verliebt zu, wie er die Buchstaben ihres Namens in Tanzfiguren umsetzte … »ein U holen wir uns aus einem v
oleo
und dann ein L und I wie l
apiz a la
i
zquierda
«. Damián schnitt mit dem angewinkelten Bein einen Haken nach links und vollführte dann mit demselben Bein eine tastende, kreisförmige Bewegung auf dem Boden. Sie sah das Spiel seiner Muskeln unter seiner Haut, die kontrollierte Ruhe seines nackten Oberkörpers über den katzenhaft dahingleitenden Beinen, die nun dazu übergingen, eine tänzerische Entsprechung für ein E und ein doppeltes T zu suchen. Er hielt kurz inne, überlegte und sagte dann: » e
nrosque
und zwei t
aconeos.
« Er drehte so schnell, dass seine Beine kurzzeitig über Kreuz standen, löste die Überkreuzung durch einen kreisförmigen Ausfallschritt, schlug dann wie ein Flamencotänzer mit der Ferse zweimal hintereinander auf den Boden, glitt in eine Rechtsdrehung und kam in der Grundposition zum Stehen.
»Und jetzt der Abschluss für das schönste Wesen der Welt: ein A wie in a
banico
«, und er tanzte die Figur, eine komplizierte Drehung, die das Bild eines Fächers auf den Boden zeichnete. Dann wiederholte er die ganze Sequenz, und Giulietta sprang von der Couch, klatschte in die Hände, umarmte ihn dann und beförderte ihn mit sanften Stößen auf die Couch zurück, um dort mit ihren Lippen und Fingerspitzen ein ganz anderes Alphabet auszukosten.
Die Erinnerung ließ sie auf der Straße innehalten.
Lutz’ Bemerkung:
Damián tanzt komisches Zeug. Deshalb hassen sie ihn so.
Wenn sie nur dieses Videoband dabei hätte, die Aufzeichnung der letzten Aufführung in Berlin. Hatte er
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