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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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können, an der Brust irgendeines Mannes durch diese Musik und diese Verse hindurchtanzen zu dürfen.
J’oublie, J’oublie,
sang die Stimme, während das Lied sich seinem Ende zuneigte.
    Ein kleiner Trost. Aber immerhin.
    Vergessen. Vergessen.

10
    M athematik? Tango?
    Wenn sie genauer darüber nachdachte, so gab es sehr wohl einen Berührungspunkt zwischen den beiden Damiáns.
    Sie war auf dem Heimweg, schlenderte gedankenversunken die Calle Bartolomé Mitre hinauf und erinnerte sich an einen Sonntagnachmittag im Oktober.
    Die Benesh Notation!
    Damián war fasziniert gewesen. Ein paar Wochen vor der Aufführung entdeckte er das Buch auf ihrem Schreibtisch. Sie wusste nicht mehr, warum sie es dort hingelegt hatte. Sie schaute manchmal hinein, um das Wenige, das sie darüber wusste, nicht ganz zu vergessen. Vielleicht würde sie eines Tages selbst choreografieren, und dann wäre es nützlich, über das Benesh-System Bescheid zu wissen. Aber sie war weit davon entfernt, zu tief in die Materie einzusteigen. Sie erkannte die Nützlichkeit dieser Aufschreibetechnik, hegte ihr gegenüber jedoch auch ein gewisses Misstrauen.
    Damián war vom ersten Moment an wie elektrisiert. Er wollte überhaupt nicht mehr von diesem Thema lassen und stellte ihr endlos viele Fragen. Dabei kannte sie sich gar nicht besonders gut damit aus. Giulietta hatte sich das Lehrbuch aus Neugier besorgt und nicht in der Absicht, das komplizierte Aufschreibesystem für Körperbewegungen tatsächlich zu lernen. Wie die Choreologin der Staatsoper es fertig brachte, die Einstudierungen zu notieren, war ihr ohnehin ein Rätsel. Sie hatte einmal einen ganzen Vormittag lang neben ihr gesessen und zugeschaut, wie sie das fünfzeilige Liniensystem mit Strichen und Punkten füllte. Anhand dieser Notizen konnte sie später jede Bewegung rekonstruieren, und dies genauer als eine Videoaufzeichnung.
    Damián hatte stundenlang in dem Buch gelesen und dann sogar ansatzweise versucht, Tangofiguren in der Benesh-Technik aufzuschreiben.
    »Wunderbar, nicht wahr?«, sagte er irgendwann, »die Körperlinien entsprechen genau den Notenlinien. Exakt fünf: Kopf. Schulter. Taille. Knie. Boden. Lernt man dieses System in der Ballett-Schule?«
    Sie hatte verneint. In der achten Klasse waren sie ein paar Stunden lang damit gequält worden, nur damit sie wenigstens einmal davon gehört hatten. Ihre Klassenkameradinnen meinten, das Ganze habe so viel mit Tanz zu tun wie das Periodensystem in einem Chemiebuch mit der Natur.
    »Das ist etwas für Choreografen, nicht für Tänzer«, antwortete Giulietta.
    Damián war anderer Auffassung gewesen. Er meinte, jeder Tänzer müsse seine Choreografien aufschreiben. Wenn es so ein Benesh-System für Tango gäbe, wären nicht zwei Drittel der Geschichte dieses Tanzes unwiederbringlich verloren. Kein Mensch wüsste genau, wie man um 1910 oder 1920 getanzt habe. Tango sei so etwas wie eine nur mündlich überlieferte Literatur, die immer Gefahr lief, verfälscht und vergessen zu werden. »Schau doch, wie genau man alles erfassen kann, jede Bewegung, sogar die Stellung der Finger an den Händen.«
    Er betrachtete fasziniert die Symbole auf dem Papier.
    »Wie muss man das lesen?«, fragte er dann.
    »Man sieht alles von hinten, zum Zuschauerraum hin.«
    »Und welcher Schritt ist das? Kannst du das erkennen?«
    Giulietta musterte das Blatt.
»Petit pas de basque en tournant«,
sagte sie dann.
    »Woran siehst du das?«
    »Na ja, fünfte Position, der rechte Fuß ist vorne …«, sie strich mit ihrem Zeigefinger die Linien entlang …, »
demi-plié
, leichtes Heben der Arme zur zweiten Position vor Einsetzen der eigentlichen Bewegung.«
    »Wo sind die Arme?«, fragte er.
    »Hier, zwischen der dritten und vierten Linie.« Sie zeigte ihm die Stelle auf dem Blatt. »Dann geht der rechte Fuß nach vorne,
croisé
, und beschreibt einen Halbkreis,
en dehors
. Der linke Fuß bleibt im
plié

    »Faszinierend.«
    »Mit einem Video geht es schneller«, entgegnete Giulietta.
    Damián widersprach. »Sicher. Aber auf einem Video sieht man eben nicht alles. Außerdem weiß man nie, ob die Aufführung an jenem Tag richtig war. Wie oft lässt man einen Schritt oder eine Bewegung aus. Mit einem Video kann man keine Tänze choreografieren. Schallplatten oder CD s ersetzen ja auch keine Noten und Partituren. Man sieht viele Dinge erst, wenn man sie aufschreibt, weil Aufschreiben mehr ist als das Erfassen einer Erinnerung. Es zeigt dir die Struktur von einem

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