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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Bemerkungen zu Tangofragen anzubieten hatte. Rachel verschwand schließlich an die Bar, nicht ohne das obligate »Nice to meet you«, das unpassender nicht hätte sein können, da ja alle Versuche, sich zu begegnen, offensichtlichst gescheitert waren. Giulietta saß wie zuvor allein an ihrem Tisch und folgte dem Schauspiel auf dem mittlerweile restlos überfüllten Parkett.
    Es war sechs Uhr. Nach Lindseys Auskunft hatte es keinen Sinn, vor Mitternacht in diesem
Almagro
zu erscheinen. Wenn Damián in der Stadt war und wenn er ausgehen würde, so wäre das Almagro nach Lindseys Ausführungen der Ort, wo er wahrscheinlich auftauchen würde. Sie blickte auf die von Kugelschreiberkringeln gespickte Seite in ihrer Zeitschrift. Das war ihre Landkarte für die nächsten Tage und Nächte, der Stadtplan von Buenos Aires, nach dem sich jene Welt bewegte, in der Damián sich aufhielt. Hier waren die Orte verzeichnet, an denen er früher oder später vorüberkommen würde. Sie hatte noch ein paar weitere Anhaltspunkte gewonnen. Eine
Casa Azúl
war im Adressenverzeichnis unter Tucumán 844 genannt. Die Straße war keine drei Blocks von hier entfernt, und mittlerweile hatte sie auch gelernt, dass bei den in Ost-West-Richtung verlaufenden Straßen die Hausnummern im Zentrum bei Null begannen und allmählich zunahmen, so dass die
Casa Azúl
nur 844 Meter vom Stadtzentrum entfernt und damit auf gleicher Höhe mit ihr liegen musste.
Casa Azúl
. Ausruhen im Hotel. Essen gehen. Almagro. Lutz anrufen. So etwa lag dieser Abend vor ihr. Und dann, ganz unerwartet, geschah etwas Merkwürdiges.
    Plötzlich änderte sich die Musik. Ein melancholischer Bandoneonton schwebte mit einem Mal über dem Ballsaal und ließ die Paare in ihren Bewegungen langsamer, bedächtiger werden. Kurzzeitig erschien es Giulietta sogar, als sei die Beleuchtung ein wenig dunkler geworden. Aber das musste Einbildung sein. Und dann war da auf einmal diese Stimme, diese helle, sanfte, klagende Frauenstimme, die sich wie Abenddämmerung hinter den lang gezogenen, wundervollen Tönen des Bandoneons auszubreiten schien:
Lourds, soudain semblent lourds les draps, le velours de ton lit …
Giulietta lauschte.
Schwer, plötzlich schwer scheinen die Laken, der Samt deines Bettes …
Der französische Text, die wundervolle Stimme in Verbindung mit dem magischen, undefinierbaren Klang dieses Instruments versetzte sie in eine Stimmung, für die sie weder Worte noch Erklärungen hatte. Sie hatte nur plötzlich das unbändige Bedürfnis, zu diesen Versen und zu dieser Melodie zu tanzen. Es war ein ähnliches Gefühl wie damals, als sie im Foyer des Theaters in den Hackeschen Höfen das Stück gehört hatte, zu dem Damián und Lutz ihre Choreografie geübt hatten. Diese Musik berührte etwas in ihr, das sie noch nie gespürt hatte. Es war eine ganz andere Sehnsucht nach Bewegung darin enthalten, eine Bewegung zu zweit, wie es sie im Ballett überhaupt nicht gab. Ihre Kunst erschien ihr mit einem Mal seelenlos im Vergleich zu diesen ineinander versunkenen Körpern. Sie betrachtete die Hände der Männer, schwere, abgearbeitete Hände, die sanft auf den Rücken der Damen ruhten. Sie sah die geschlossenen Augen der Frauen, das sanfte Wiegen des einen und das gemessene, gemeinsame Schreiten eines anderen Paares. Lag es an der Musik, welche die Bewegung der Paare verlangsamt hatte? Oder an ihrer nun wieder schärfer empfundenen Einsamkeit, die ihre Wahrnehmung so völlig verändert hatte? Oder an den Versen dieses verfluchten Liedes, die wie das Verdikt ihres eigenen Schicksals in ihrer Seele widerhallten.
Kurz, kurz scheint plötzlich die Zeit, der Countdown einer Nacht, wenn ich selbst unsere Liebe vergesse. Kurz, kurz scheint die Zeit, da deine Finger meine Lebenslinie entlangstreichen.
    Wie auf ein einziges Zeichen hin war alles wieder da, der Schmerz in ihrer Brust, dieses Ziehen und Stechen, das zugleich nirgends und überall war. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie sich unter Kontrolle. Sie würde hier nicht weinen. Der Schmerz war der gleiche, unverändert der gleiche. Aber in dieser Umgebung fühlte er sich anders an, inmitten der Menschen, die für die Dauer eines Tangos ihre Einsamkeit miteinander teilten. Sie sah plötzlich keine richtige oder falsche Bewegung mehr, sondern einfach Menschen, die zusammengekommen waren, um einer unaussprechlichen Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Und in diesem Augenblick wünschte sie sich nichts inständiger, als daran teilhaben zu

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