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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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an.
    Giulietta musterte ihre nähere Umgebung. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde, nicht nur von Männern, sondern insbesondere von den Frauen dieser Männer, die offensichtlich herausfinden wollten, was ihre Begleiter vorübergehend von ihnen abgelenkt hatte. Giulietta erwiderte keinen der Blicke, sondern durchspähte den Raum nach einer Gestalt, einer Körperhaltung, einer Bewegung, die sie auch in diesem Gewimmel aus tanzenden Leibern sofort erkennen würde. Aber Damián war nirgends zu sehen.
    »Eine ganz andere Atmosphäre hier, nicht wahr«, sagte Lindsey. »Im Augenblick ist es noch etwas zu voll. Aber gegen zwei, halb drei wird es besser.«
    »Kennst du die Tänzer hier alle?«, fragte Giulietta.
    »Die meisten schon. Siehst du den kleinen untersetzten Mann dort hinten mit der gestreiften Weste?«
    »Den mit der jungen Tänzerin mit dem bauchfreien Top?«
    »Ja. Das ist Hector Goyechea. Einer der Bekanntesten. Er macht nachher eine kleine Vorführung. Das ist hier so üblich. Er hat auch eine kommerzielle Show unten im Zentrum, aber das ist albernes Zeug für die Touristen. Die besten Sachen zeigen die nur, wenn sie unter sich sind.«
    Hector!, dachte sie. Damiáns Lehrer. Aber Lindsey sprach schon weiter.
    »Das Mädchen, mit dem er da tanzt, ist Estela, die Nichte von Hector Orezzolli. Auch so eine Legende. Der Partner von Claudio Segovia.«
    »Tut mir Leid. Nie gehört«, sagte Giulietta.
    »Das ist immer so. Die eigentlichen Genies hinter der Tango-Renaissance kennt kaum jemand. Aber ohne die Tango-Argentino-Show von Claudio Segovia und Hector Orezzolli wäre dieser Saal heute leer, und in Europa und Amerika wäre das Verhältnis zwischen den Geschlechtern noch trostloser, als es ohnehin schon ist.«
    »Was meinst du denn damit?«, fragte Giulietta verwundert.
    »Nun ja, es ist doch seltsam, oder? Vierzig Jahre lang konnte man mit dieser Musik und diesem Tanz keinen Hund hinterm Ofen hervorlocken. Und plötzlich, mitten in der emotionalen und sexuellen Eiszeit der achtziger Jahre, kommen zwei schwule Theatergenies daher, bringen den Tango auf die Bühne, und sofort breitet sich ausgerechnet in Europa und Nordamerika das Tangofieber aus.
Der
Machotanz in den Hochburgen des Feminismus. Das muss einem doch zu denken geben.«
    »Und darüber schreibst du?«
    Lindsey nickte. »Unter anderem. Aber mich interessieren vor allem die Blicke. Hier schaue ich am liebsten nur zu. Siehst du das Mädchen dort am dritten Tisch von links? Die mit dem schwarzen Kleid und den Spaghettiträgern?« Giulietta hatte die Frau bereits bemerkt. Sie war bildschön, saß in Begleitung zweier weiterer Frauen an einem Tisch direkt an der Tanzfläche und schien sich nicht im Geringsten für das zu interessieren, was um sie herum vor sich ging. Sie wechselte bisweilen ein Wort mit einer ihrer Begleiterinnen, nippte im Übrigen an ihrer Cola, rauchte und wirkte im Grunde gelangweilt. Offenbar hatte sie keinerlei Interesse daran, zu tanzen.
    Lindsey fuhr fort. »Chicho versucht schon den ganzen Abend, an sie heranzukommen, aber sie ignoriert ihn genauso wie alle anderen. Ich weiß nicht, auf wen sie wartet, aber … aha, jetzt pass auf. Die Pause. Vielleicht versucht es jemand.«
    Die Pausenmelodie erklang, dann setzte die Musik aus. Die Tanzfläche leerte sich. Aus dem Lautsprecher erklang die Stimme des Discjockeys.
    »Was erzählt der Mann eigentlich?«, fragte Giulietta.
    »Alles Mögliche. Wer heute Abend da ist. Wer heute Abend nicht da ist. Was am Wochenende stattfinden wird. Welche Musik als Nächstes gespielt wird …«
    Während Lindsey sprach, musterte sie gleichzeitig aufmerksam die Gesichter der anderen Gäste. Plötzlich unterbrach sie ihre Rede und flüsterte: »An der Stirnseite, der Typ mit dem weißen Hemd und der grauen Weste, siehst du ihn?«
    Der Mann war nicht zu übersehen. Er hatte sich gerade erhoben und bewegte sich langsam in Richtung Bar.
    »Er versucht es auch schon länger. Bevor du kamst, hat er vor ihrem Tisch jede Menge kompliziertes Zeug getanzt. Er ist ziemlich gut. Jetzt platziert er sich bestimmt, um von ihr gesehen zu werden. Aber sie schaut einfach nicht hin. Also wechselt er den Standort.«
    Giulietta musterte den Mann und schaute dann zu der Frau mit dem schwarzen Kleid. Jetzt bemerkte sie, dass die Frau aus den Augenwinkeln kurze Blicke in ihre Umgebung warf und durchaus registrierte, was sich um sie herum abspielte. Doch ihre Körperhaltung war abweisend. Ihr Beine waren übereinander

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